Entscheidungsstichwort (Thema)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Subsidiaritätsgrundsatz fordert, daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um es nicht zu einem Verfassungsverstoß kommen zu lassen oder um eine geschehene Grundrechtsverletzung zu beseitigen. Zu diesen prozessualen Möglichkeiten gehört auch ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

2. Im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG ist es bedenklich, wenn das Berufungsgericht fordert, daß sich der Berufungsführer über die Zustellung einer vorgreiflichen Entscheidung an den Gegner und den Eintritt der Rechtskraft zu erkundigen hat, um den genauen Beginn der Berufungsbegründungsfrist zu ermitteln, was in jedem Fall zu einer Verkürzung der Berufungsfrist führt; zumutbar ist aber, vorsorglich einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen. Aus der im Streitfall erfolgten Terminierung hätte der Berufungsführer entnehmen können, daß das Berufungsgericht von der Rechtskraft der Entscheidung im vorgreiflichen Verfahren ausging und die Berufungsbegründungsfrist nach der Auffassung des Gerichts infolgedessen bereits ihren Fortgang genommen hatte.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 S. 2, § 519 Abs. 2; BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Urteil vom 05.04.1995; Aktenzeichen 1 S 197/93)

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Urteil des Landgerichts Gießen in einer bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit, mit dem eine Berufung wegen fehlender Berufungsbegründung als unzulässig verworfen wurde.

In dem Ausgangsverfahren setzte das Berufungsgericht auf Antrag des Beschwerdeführers während des Laufes der Berufungsbegründungsfrist das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung eines vor dem Oberlandesgericht Frankfurt anhängigen Verfahrens aus. In diesem Verfahren, an dem ebenfalls die Parteien des Ausgangsverfahrens beteiligt waren, wurde am 13. Juli 1994 das Urteil verkündet. Das Urteil wurde den Parteien vor dem 15. August 1994 zugestellt, Rechtsmittel wurden nicht eingelegt.

In dem Ausgangsverfahren ging daraufhin dem Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 10. November 1994 eine Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung für den 8. März 1995 zu. Mit Schriftsatz vom 17. Februar 1995 beantragte der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers, gemäß § 150 ZPO die Aussetzung des Verfahrens aufzuheben sowie gegebenenfalls eine Frist zur Begründung der Berufung zu setzen.

Das Landgericht kam diesem Antrag nicht nach, sondern verwarf auf die mündliche Verhandlung vom 8. März 1995 hin die Berufung als unzulässig. Nach Auffassung des Landgerichts war die Berufung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist nach § 519 Abs. 2 ZPO begründet worden. Nach der rechtskräftigen Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt und dem Ablauf der Fristhemmung durch die Gerichtsferien habe die Berufungsbegründungsfrist gemäß § 249 Abs. 1 in Verbindung mit § 223 Abs. 1 ZPO neu zu laufen begonnen. Die Aussetzung des Rechtsstreits gemäß § 148 ZPO habe mit der Erledigung des vorgreiflichen Verfahrens geendet. Eine Aufnahmeerklärung der Parteien oder eines Aufhebungsbeschlusses habe es hierfür nicht bedurft. Auch zur Ingangsetzung der Berufungsbegründungsfrist sei eine gerichtliche Anordnung nicht erforderlich gewesen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG.

Das Recht auf rechtliches Gehör beinhalte, daß gesetzlich eingeräumte Fristen grundsätzlich ausgenützt werden dürften. Dem Beschwerdeführer sei nicht zumutbar, den Zeitpunkt der Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung zu recherchieren, um den Beginn der Berufungsbegründungsfrist zu ermitteln. Da er den Zeitpunkt des Fristbeginns erst einige Zeit, nachdem die Frist zu laufen begonnen habe, in Erfahrung bringen könne, verkürze dies zudem die ihm gewährleistete Berufungsbegründungsfrist. Auf den bloßen Verdacht hin, die Rechtskraft sei inzwischen eingetreten, könne der Berufungskläger die Berufung nicht begründen. Sei nämlich tatsächlich die Rechtskraft noch nicht eingetreten, wäre seine Rechtsmittelbegründung wegen § 249 Abs. 2 ZPO nicht wirksam. Die Berufungsbegründungsfrist könne somit nur durch einen Beschluß des Gerichts konstitutiv in Lauf gesetzt werden, da anderenfalls der Zugang zu den Gerichten in unzumutbarer Weise erschwert würde.

III.

Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung liegen nicht vor. Weder wäre durch eine Entscheidung die Klärung einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten noch ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93 a Abs. 2 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde unzulässig.

Der Subsidiaritätsgrundsatz fordert, daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, um es nicht zu einem Verfassungsverstoß kommen zu lassen oder um eine geschehene Grundrechtsverletzung zu beseitigen (BVerfGE 81, 97 ≪102≫). Zu diesen prozessualen Möglichkeiten gehört auch ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BVerfGE 42, 252 ≪256≫; 77, 275 ≪282≫). Der Beschwerdeführer hat nicht alles unternommen, um einer Verletzung seiner Verfahrensgrundrechte vorzubeugen.

Man mag dem Beschwerdeführer darin folgen, daß die vom Landgericht vertretene Auffassung im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG bedenklich ist, weil sie ihn dazu nötigt, sich über die Zustellung der vorgreiflichen Entscheidung an den Gegner und den Eintritt der Rechtskraft zu erkundigen, um den genauen Fristbeginn zu ermitteln, und deswegen in jedem Fall zu einer Verkürzung der Berufungsfrist führt (vgl. BVerfGE 74, 220 ≪224≫; anders bei BGH LM Nr. 2 zu § 249 ZPO sowie OLG Hamburg, ZZP 76. Band, S. 477, wo der die Aussetzung beendende Umstand ohne weiteres wahrnehmbar war). Der Beschwerdeführer hätte aber spätestens auf die Terminsladung vom 7. November 1994 hin zur Wahrung seiner Rechte reagieren müssen. Aus der Terminierung hätte er entnehmen können, daß das Landgericht von der Rechtskraft der Entscheidung im vorgreiflichen Verfahren ausging und die Berufungsbegründungsfrist nach der Auffassung des Gerichts infolgedessen bereits ihren Fortgang genommen hatte. Übrigens ergibt sich aus seinem Schriftsatz vom 17. Februar 1995, daß er diese Schlüsse auch tatsächlich gezogen hat. Ungeachtet der von ihm vertretenen Auffassung, die Berufungsbegründungsfrist müsse durch einen Beschluß des Gerichts wieder in Lauf gesetzt werden, war ihm zuzumuten, mit Rücksicht auf die erkennbare Rechtsauffassung des Gerichts vorsorglich einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen. Daß eine Begründung der Berufung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist nach § 234 Abs. 1 in Verbindung mit § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO unzumutbar war, wird vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1518596

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