Verfahrensgang
AG Dortmund (Beschluss vom 02.01.2009; Aktenzeichen 405 C 4275/08) |
AG Dortmund (Urteil vom 04.09.2008; Aktenzeichen 405 C 4275/08) |
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 4. September 2008 – 405 C 4275/08 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben und die Sache an das Amtsgericht Dortmund zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 2. Januar 2009 – 405 C 4275/08 – gegenstandslos.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die ihr im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung rechtlichen Gehörs in einem Zivilrechtsstreit.
1. Im Ausgangsverfahren wurde die Beschwerdeführerin, eine Fluggesellschaft, auf Schadensersatz in Anspruch genommen, weil der Kläger und seine Ehefrau einen über das Internet bei der Beschwerdeführerin für den 31. Oktober 2007 gebuchten Flug wegen der Vorverlegung des Starts verpassten und deshalb kurzfristig einen teureren Ersatzflug nehmen mussten. Zwischen den Parteien war unter anderem streitig, ob die Beschwerdeführerin den Kläger rechtzeitig per E-Mail über die geänderte Abflugzeit informiert hatte. Die Beschwerdeführerin legte mit der Klageerwiderung die Reproduktion einer E-Mail vom 20. September 2007 mit der Benachrichtigung über die Flugplanänderung vor, welche in ihrem Auftrag von einer Firma mit Sitz in Großbritannien an den Kläger versandt worden und diesem zugegangen sei. Hinsichtlich der Versanddaten der E-Mail („Absender”, „Sendezeit”, „Empfänger” und „Betreff”) verwies die Beschwerdeführerin auf die vorgelegte Reproduktion, in der als Absenderadresse eine E-Mail-Adresse der Beschwerdeführerin („fromaddr info@g … -sc-com”) und als Absendername der Name der Beschwerdeführerin („fromname G …”) angegeben waren.
2. Das Amtsgericht gab der Klage mit Urteil vom 4. September 2008 statt.
Die Beschwerdeführerin habe nicht hinreichend dafür Sorge getragen, dass der Kläger von der geänderten Rückflugzeit Kenntnis nehmen konnte. Dem Gericht erscheine es möglich, dass eine Information infolge eingerichteter Spam-Filter unterblieben sei. Wenn eine Zugangsverhinderung „der E-Mail der britischen Spezialfirma” durch einen Spam-Filter beim E-Mail-Anschluss des Klägers erfolgt sein sollte, so sei diese mangelnde Möglichkeit der Kenntnisnahme notwendiger Informationen dem Kläger nicht zuzurechnen. Vielmehr sei dies auf den Willensentschluss der Beschwerdeführerin zurückzuführen, „nicht von der eigenen E-Mail-Adresse ausgehend” Nachrichten an die Fluggäste zu versenden. In dieser „organisatorischen Umgestaltung des Übermittlungsweges” liege nach Auffassung des Gerichts ein möglicherweise entscheidender Beitrag für die Nichtübermittlung der erforderlichen Nachrichten. Das der Beschwerdeführerin als Verschulden zuzurechnende Fehlverhalten sei vor diesem Hintergrund darin zu sehen, dass sie sich nicht in sonstiger Weise vergewissert habe, dass die von ihr versandten Nachrichten den Fluggästen tatsächlich zugegangen seien. Durch die „organisatorische Verlagerung des E-Mail-Versandes” habe sich für die Beschwerdeführerin die Verpflichtung ergeben, eine Lesebestätigung der Fluggäste zu erwarten. Im Falle der Nichtübermittlung einer Bestätigung wäre die Beschwerdeführerin gehalten gewesen, in sonstiger Weise sicherzustellen, dass den Fluggästen tatsächlich die bedeutsame Information über die Verlagerung der Rückflugzeit zugehe. Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass die E-Mail nicht von der eigenen Adresse der Beschwerdeführerin ausgegangen sei, „sondern von einer Drittadresse” und unter Berücksichtigung des langen Zeitraums zwischen der Änderung der Rückflugzeit und dem tatsächlichen Zeitpunkt des Rückflugs sei es der Beschwerdeführerin als besonders schweres Fehlverhalten anzulasten, dass sie nicht durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt habe, dass sämtliche Fluggäste die erforderlichen Informationen zur Verlegung des Rückflugs erhielten.
3. Gegen das Urteil erhob die Beschwerdeführerin die Anhörungsrüge.
Das Amtsgericht sei von einem Versand der E-Mail vom 20. September 2007 nicht von ihrer E-Mail-Adresse, sondern von der E-Mail-Adresse der britischen Firma ausgegangen, ohne ihr Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Aus der vorgelegten Reproduktion der E-Mail ergebe sich insoweit gerade das Gegenteil. Das Amtsgericht lege entscheidungserheblich einen von ihr nicht vorgetragenen und unzutreffenden Sachverhalt zugrunde.
4. Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 2. Januar 2009 als unbegründet zurück.
Von überragender Bedeutung für die Fallentscheidung sei der lange Zeitabstand zwischen dem Bekanntwerden der Abflugzeitänderung und dem Abflugtag (20. September 2007 und 31. Oktober 2007) gewesen. Der daraus resultierende Verschuldensgrad der Beschwerdeführerin verbiete eine Berücksichtigung eigener Obliegenheitsverstöße des Klägers und gebe dem Rechtsstreit seinen einzigartigen Charakter.
5. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin unter anderem die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.
Das Urteil vom 4. September 2008 verletze ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus den in der Anhörungsrüge dargelegten Gründen. Der Verstoß sei aufgrund der Gehörsrüge nicht geheilt worden, sondern werde in dem Beschluss vom 2. Januar 2009 mit willkürlichen und nicht durchgreifenden Argumenten als unmaßgeblich behandelt.
6. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen; die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechten der Beschwerdeführerin, hier des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG, angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 6, 12 ≪14≫; 10, 177 ≪182 f.≫; 19, 32 ≪36≫; 29, 345 ≪347 f.≫; 46, 72 ≪73≫; 50, 280 ≪284≫).
1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen vom 4. September 2008 und vom 2. Januar 2009 verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Das Recht auf Gehör gewährleistet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten (vgl. BVerfGE 6, 12 ≪14≫; 10, 177 ≪182 f.≫; 19, 32 ≪36≫; 29, 345 ≪347 f.≫; 46, 72 ≪73≫; 50, 280 ≪284≫).
Dieses Recht ist hier dadurch verletzt, dass das Amtsgericht in dem Urteil vom 4. September 2008 zum Nachteil der Beschwerdeführerin maßgeblich auf eine „organisatorische Umgestaltung des Übermittlungsweges” durch Benachrichtigung der Fluggäste „nicht von der eigenen E-Mail-Adresse ausgehend”, sondern mittels „der E-Mail der britischen Spezialfirma” und „von einer Drittadresse” abgestellt hat, ohne der Beschwerdeführerin zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesem – von den Parteien weder vorgetragenen noch sonst im Prozess erkennbar erörterten – Sachverhalt zu geben. Der Verstoß setzt sich in dem Beschluss vom 2. Januar 2009 fort.
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Das Amtsgericht hat die anspruchsbegründende Pflichtverletzung maßgeblich aus der von ihm unterstellten Versendung der streitgegenständlichen Nachricht von der E-Mail-Adresse eines Dritten abgeleitet. Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht bei einer Anhörung der Beschwerdeführerin eine andere, ihr günstigere Sachentscheidung getroffen hätte. Insbesondere hat das Amtsgericht das angegriffene Urteil vom 4. September 2008 nicht auf einen weiteren, die Entscheidung selbständig tragenden Grund gestützt. Soweit das Amtsgericht in dem angegriffenen Beschluss vom 2. Januar 2009 den langen Zeitabstand zwischen der Änderung der Abflugzeit und dem Abflugtag als entscheidende Erwägung bezeichnet hat, kann dies nicht nachvollzogen werden. In den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils hat das Amtsgericht diesen Gesichtspunkt nicht für die Begründung, sondern lediglich ergänzend für die Bewertung der Schwere der angenommenen Pflichtverletzung herangezogen. Soweit das Amtsgericht weitere Maßnahmen der Vergewisserung über den Zugang der E-Mail-Nachricht vermisst – etwa die Erwartung einer Lesebestätigung –, knüpft auch diese Erwägung an die vermeintliche Umgestaltung des Übermittlungsweges an. Ähnlich verhält es sich mit der Erwägung, dass noch weitere 17 oder 18 Fluggäste eine Benachrichtigung über die geänderte Abflugzeit nicht erhalten haben wollten.
Der aufgezeigten Grundrechtsverletzung kommt trotz der vergleichsweise geringen Klagesumme besonderes Gewicht zu. Das Urteil vom 4. September 2008 mag auf einem Versehen beruhen. Auf die substantiiert begründete Anhörungsrüge hin musste sich dem Amtsgericht der Gehörsverstoß jedoch aufdrängen. Dennoch hat das Amtsgericht die Anhörungsrüge mit einer nicht tragfähigen Begründung zurückgewiesen. Damit hat es den durch die Verfassung gewährten Schutz verkannt und sich leichtfertig über den grundrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör hinweggesetzt (vgl. BVerfGK 7, 438 ≪442≫).
Das Urteil vom 4. September 2008 ist wegen dieses Verstoßes gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Dortmund zurückzuverweisen, ohne dass es auf die weiter erhobenen Rügen noch ankommt. Der Beschluss vom 2. Januar 2009 wird damit gegenstandslos.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG; die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪368 f.≫).
Unterschriften
Papier, Bryde, Schluckebier
Fundstellen