Verfahrensgang

LG Potsdam (Beschluss vom 19.04.2005; Aktenzeichen 6 S 37/04)

 

Tenor

  • Der Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 19. April 2005 – 6 S 37/04 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 3 Absatz 1 sowie Artikel 20 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.

    Die der Beschwerdeführerin unter dem 25. Mai 2005 mitgeteilte Entscheidung des Landgerichts über die Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin wird damit gegenstandslos.

    Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

  • Das Land Brandenburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die zivilgerichtliche Verwerfung einer Anhörungsrüge.

I.

1. Die Beschwerdeführerin wurde im Ausgangsverfahren von der Klägerin, einem Speditionsunternehmen, für einen Möbeltransport auf Zahlung in Anspruch genommen. Sie rechnete mit Schadensersatzansprüchen wegen von ihr behaupteter Beschädigungen der Möbel auf, für deren Entstehen während des Transports sie Beweis anbot.

Das Amtsgericht gab der Klage weitgehend statt; die Gegenansprüche berücksichtigte es nicht, unter anderem deshalb, weil dazu verspätet vorgetragen worden sei. Die Berufung der Beschwerdeführerin gegen diese Entscheidung wies das Landgericht mit Urteil vom 28. Januar 2005 zurück; auf die Anschlussberufung der Klägerin verurteilte es die Beschwerdeführerin zu weiterer Zahlung. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu den Gegenansprüchen sei vom Amtsgericht zu Recht als verspätet zurückgewiesen worden.

Die daraufhin erhobene Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin hat das Landgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 19. April 2005 als unzulässig verworfen. Eine Anhörungsrüge gegen Berufungsurteile sei nicht statthaft. Eine entsprechende Anwendung des § 321a ZPO komme nicht in Betracht.

Die dagegen vorgebrachte Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin, mit der diese auf die seit dem 1. Januar 2005 geltende Fassung des § 321a ZPO hinwies, blieb ebenfalls erfolglos. Der Beschluss des Landgerichts vom 19. April 2005 sei nach den zu diesem Zeitpunkt in der Literatur vertretenen Auffassungen und damit auch unter Berücksichtigung des geltenden Rechts gemäß § 321a Abs. 4 ZPO unanfechtbar. Auf die Gegenvorstellung sei daher nichts zu veranlassen.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG. Der angegriffene Beschluss verstoße gegen das Recht der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör. Schon das Amtsgericht habe sich rechtswidrig mit ihrem Vorbringen nicht auseinander gesetzt. Auch das Landgericht habe den Vortrag der Beschwerdeführerin, namentlich alle Berufungsgründe, unberücksichtigt gelassen.

Durch die Ausführungen des Landgerichts zur Anhörungsrüge habe dieses zudem zu erkennen gegeben, dass es sich nicht dem geltenden Recht verpflichtet fühle. Spätestens mit der Erklärung, es habe einen neuen Kommentar benutzt, auf den Inhalt des Bundesgesetzblatts komme es deshalb nicht an, habe es gezeigt, dass es den Bereich der einfachen Rechtsverletzung verlassen habe. Der verfassungsrechtliche Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör sei verkannt oder bewusst vereitelt worden. Damit stelle sich der Beschluss des Landgerichts auch als willkürlich dar.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg und die Klägerin des Ausgangsverfahrens Stellung genommen. Das Ministerium ist der Ansicht, dass die Anhörungsrüge vom Landgericht nicht hätte verworfen werden dürfen. Die Klägerin ist im Ergebnis anderer Meinung.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung von Rechten der Beschwerdeführerin im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Verwerfung der Anhörungsrüge durch das Landgericht verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot und in ihrem Recht aus Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Der angegriffene Beschluss hält einer Prüfung am Willkürmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht stand.

a) Ein Richterspruch ist willkürlich nur, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm vom Gericht nicht berücksichtigt wird (vgl. BVerfGE 87, 273 ≪278 f.≫ m.w.N.). Maßgebend für eine dahin gehende Feststellung sind objektive Kriterien. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪13≫).

b) Nach diesen Grundsätzen ist hier von Willkür auszugehen. Das Landgericht hat die Anhörungsrüge gegen sein am 28. Januar 2005 erlassenes, die Berufung der Beschwerdeführerin zurückweisendes Urteil als unzulässig verworfen, weil § 321a ZPO nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte auf Berufungsentscheidungen nicht anwendbar sei. Es ist dabei erkennbar von der alten Fassung des § 321a ZPO ausgegangen, die durch das Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) vom 9. Dezember 2004 (BGBl I S. 3220) mit Wirkung vom 1. Januar 2005 aufgehoben und durch eine Neuregelung ersetzt worden ist. Dieses Gesetz hat die Möglichkeit, Anhörungsrüge zu erheben, in § 321a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO n.F. auf alle zivilgerichtlichen Entscheidungen ausgedehnt, gegen die ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf nicht gegeben ist.

Danach ist es unverständlich und war es sachfremd, bei der Entscheidung über die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin die offensichtlich einschlägige Norm des § 321a ZPO n.F. nicht anzuwenden. Dies gilt umso mehr, als die Beschwerdeführerin das Gericht ausweislich der beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens mit Schriftsatz vom 13. April 2005 ausdrücklich auf die Neufassung des § 321a ZPO als Rechtsgrundlage der erhobenen Anhörungsrüge hingewiesen hatte.

2. Das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG ist unter diesen Umständen ebenfalls verletzt, weil das Landgericht zugunsten der Beschwerdeführerin die danach gebotene Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch durch landgerichtliche Berufungsurteile (vgl. BVerfGE 107, 395 ≪407 ff.≫; 108, 341 ≪345≫) infolge der Nichtberücksichtigung des § 321a ZPO nicht eröffnet hat.

3. Der angegriffene Beschluss beruht auf den festgestellten Verfassungsverstößen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Zugrundelegung der Neufassung von § 321a ZPO der Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin dadurch abgeholfen hätte, dass es das Berufungsverfahren nach § 321a Abs. 5 Satz 1 ZPO n.F. fortgeführt hätte.

4. Der Beschluss des Landgerichts, mit dem dieses die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin verworfen hat, ist daher gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen. Die Entscheidung des Landgerichts über die Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin wird mit der Aufhebung des angegriffenen Beschlusses gegenstandslos.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

 

Unterschriften

Haas, Hömig, Bryde

 

Fundstellen

Haufe-Index 1410029

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