Verfahrensgang
SG Chemnitz (Beschluss vom 13.08.2010; Aktenzeichen S 18 SF 537/10 E) |
Tenor
1. Der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 13. August 2010 – S 18 SF 536/10 E und S 18 SF 537/10 E – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Beide dem Beschluss zugrunde liegenden Sachen werden an das Sozialgericht zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für die Verfassungsbeschwerdeverfahren auf zusammen 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, wendet sich mit den beiden weitgehend wortgleichen Verfassungsbeschwerden gegen die nach der hier maßgeblichen Rechtslage bis zum 27. Mai 2011 vorgeschriebene hälftige Anrechnung der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr (Nr. 2503 des Vergütungsverzeichnisses ≪Anlage 1≫ des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte – Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ≪RVG≫; im Folgenden: RVG-VV) auf die reduzierte Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 RVG-VV.
1. Gemäß Nr. 3102 RVG-VV ist die Verfahrensgebühr in sozialgerichtlichen Verfahren, in denen Betragsrahmengebühren (§ 3 RVG) entstehen, aus einem Gebührenrahmen von 40 EUR bis 460 EUR zu bestimmen. Ist dem gerichtlichen Verfahren eine Tätigkeit des Rechtsanwalts im Verwaltungsverfahren oder in einem weiteren, der Nachprüfung des Verwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren vorausgegangen, wird die Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3103 RVG-VV reduziert; der Gebührenrahmen liegt dann nur zwischen 20 EUR und 320 EUR. Wird ein Rechtsanwalt in sozialrechtlichen Angelegenheiten, in denen im gerichtlichen Verfahren Betragsrahmengebühren entstehen (§ 3 RVG), tätig, erhält er für die außergerichtliche Vertretung die Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2400 RVG-VV. Sie beträgt zwischen 40 EUR und 520 EUR; eine Gebühr von mehr als 240 EUR kann nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Eine Anrechnung dieser Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr in sozialgerichtlichen Verfahren ist nicht vorgesehen, vielmehr sind nach Absatz 4 der Vorbemerkung 3 zu Teil 3 RGV-VV nur die Geschäftsgebühren nach den Nrn. 2300 bis 2303 RVG-VV auf die Verfahrensgebühr anzurechnen.
Ist der Rechtsanwalt vorgerichtlich auf Beratungshilfebasis tätig geworden, beträgt die Geschäftsgebühr stets 70 EUR (Nr. 2503 RVG-VV; im Folgenden: Beratungshilfe-Geschäftsgebühr). Sie war gemäß Absatz 2 Satz 1 der Anmerkung zu Nr. 2503 RVG-VV auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren zur Hälfte anzurechnen. In dieser Fassung vom 5. Mai 2004 (BGBl I S. 718, 849) ist Nr. 2503 RVG-VV (im Folgenden: Nr. 2503 RVG-VV a.F.) ebenso wie Nr. 3103 RVG-VV mittelbar Gegenstand der Verfassungsbeschwerden. Mit Inkrafttreten zum 28. Mai 2011 ist Absatz 2 Satz 1 der Anmerkung zu Nr. 2503 RVG-VV um den Halbsatz ergänzt worden, dass eine Anrechnung auf die Gebühren nach Nr. 2401 und Nr. 3103 RVG-VV nicht stattfindet (Art. 11 Abs. 3, Art. 20 Abs. 2 des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ≪EG≫ Nr. 4/2009 und zur Neuordnung bestehender Aus- und Durchführungsbestimmungen auf dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts vom 23. Mai 2011 ≪BGBl I S. 898≫).
2. Der Beschwerdeführer war in den Jahren 2009 und 2010 in zwei sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren auf Beratungshilfebasis und in den anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren auf Prozesskostenhilfebasis tätig gewesen.
Die hierfür vom Beschwerdeführer beantragte Prozesskostenhilfevergütung reduzierte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Sozialgerichts jeweils um die Hälfte der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr in Höhe von 35 EUR. Nach Nr. 2503 a.F. sei die Beratungshilfe-Geschäftsgebühr zur Hälfte auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren anzurechnen. Ebenso eindeutig sei die Regelung in Nr. 3103 RVG-VV, derzufolge sich der Betragsrahmen der Verfahrensgebühr reduziere, wenn bereits eine Tätigkeit im Vorverfahren vorausgegangen sei. Die bereits ausgezahlte Beratungshilfegebühr sei hiernach zur Hälfte auf die nach Nr. 3103 RVG-VV reduzierte Verfahrensgebühr anzurechnen.
Mit dem angegriffenen Beschluss hat die Richterin die Entscheidung über die Erinnerungen des Beschwerdeführers in beiden Ausgangsverfahren zusammengefasst und beide Rechtsbehelfe zurückgewiesen. Die Kostenfestsetzungsbeschlüsse seien nicht zu beanstanden. Die Anrechnung der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches Verfahren folge aus Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F.; im Übrigen werde auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.
3. Der Beschwerdeführer rügt der Sache nach im Wesentlichen eine Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG.
Werde auf die reduzierte Verfahrensgebühr der Nr. 3103 RVG-VV die Hälfte der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F. angerechnet, würden Gebühren doppelt gekürzt, und hierdurch Rechtsanwälte, die auf Beratungshilfebasis tätig geworden seien, unverhältnismäßig belastet. Der Rechtsanwalt, der ohne Beratungshilfe tätig werde, verdiene eine volle – weit über der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr liegende – Geschäftsgebühr in Höhe von regelmäßig 240 EUR (Nr. 2400 RVG-VV) und zusätzlich die reduzierte Verfahrensgebühr der Nr. 3103 RVG-VV mit einer Mittelgebühr von 170 EUR, ohne dass diese durch Anrechnung der Geschäftsgebühr gekürzt werde. Sogar der Rechtsanwalt, der einen Mandanten nur im sozialgerichtlichen Verfahren und nicht bereits im vorangegangenen Verwaltungsverfahren vertrete, könne gemäß Nr. 3102 RVG-VV eine Verfahrensgebühr erhalten, deren Mittelgebühr 250 EUR betrage, und damit mehr verdienen als ein Rechtsanwalt, der einen Bedürftigen sowohl vorgerichtlich als auch im gerichtlichen Verfahren vertreten habe. In allen Gerichtszweigen außer der Sozialgerichtsbarkeit werde zwar die Hälfte der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr auf die jeweilige Verfahrensgebühr angerechnet, diese aber nicht ihrerseits wegen einer vorausgegangenen außergerichtlichen Tätigkeit reduziert. Die Höhe der Verfahrensgebühr im sozialgerichtlichen Verfahren hänge letztlich davon ab, ob der Mandant im Vorverfahren Beratungshilfe erhalten habe oder nicht. Die Gesetzeslage führe im Übrigen zu der unsinnigen Folge, dass ein Rechtsanwalt, der einen bedürftigen Mandanten erst im gerichtlichen Verfahren vertrete, besser gestellt sei, als ein Rechtsanwalt, der ihn sowohl außergerichtlich als auch gerichtlich vertrete. Für eine doppelte Kürzung der Verfahrensgebühr in sozialgerichtlichen Verfahren sei kein sachlicher Grund erkennbar.
4. Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium der Justiz, das Staatsministerium der Justiz und für Europa des Freistaates Sachsen, die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein Stellung genommen.
5. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten der Ausgangsverfahren vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b in Verbindung mit § 93b Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihnen gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
1. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis nicht dadurch entfallen, dass der neu eingefügte zweite Halbsatz der Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV während der Verfassungsbeschwerdeverfahren in Kraft getreten ist und seither eine Anrechnung der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 RVG-VV nicht mehr erfolgt. Da diese Neuregelung erst in Kraft getreten ist, nachdem der angegriffene Beschluss formell rechtskräftig geworden ist und eine rückwirkende Anwendung der Neuregelung auf bereits abgeschlossene Verfahren nicht vorgesehen ist, kann der Beschwerdeführer sein Begehren nur durch einen Erfolg in den beiden Verfassungsbeschwerdeverfahren erreichen.
2. Die Verfassungsbeschwerden sind auch offensichtlich begründet.
Durch Anwendung der Anrechnungsregelung aus Absatz 2 Satz 1 der Anmerkung zu Nr. 2503 RVG-VV a.F. auf die reduzierte Verfahrensgebühr der Nr. 3103 RVG-VV hat das Fachgericht die Berufsausübungsfreiheit des Beschwerdeführers in unverhältnismäßiger Weise beschränkt und damit dessen Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.
a) Die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit, einen Beruf auszuüben, ist untrennbar mit der Freiheit verbunden, eine angemessene Vergütung zu fordern. Gesetzliche Vergütungsregelungen sind daher am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen. Nichts anderes gilt für gerichtliche Entscheidungen, die auf Vergütungsregelungen beruhen (vgl. BVerfGE 88, 145 ≪159≫; 101, 331 ≪347≫; BVerfGK 6, 130 ≪132 f.≫). Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung sind mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, die durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird, und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Genüge getan ist (vgl. BVerfGE 83, 1 ≪16≫; 101, 331 ≪347≫). Bei der Auslegung und Anwendung eines Gesetzes haben auch die Fachgerichte Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts zu beachten; das Ergebnis der von ihnen vorgenommenen Auslegung der Norm darf insbesondere nicht zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führen (vgl. BVerfGE 85, 248 ≪258≫). Soweit – wie hier – eine Vergütungsregelung auszulegen ist, kann ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit dann vorliegen, wenn an sich vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls, auf die bereits eine zumutbare Kürzung der anwaltlichen Vergütung gestützt wurde, nochmals herangezogen werden, um weitere Kürzungen desselben Honoraranspruchs zu begründen (vgl. BVerfGK 6, 130 ≪133 f.≫; 10, 319 ≪322≫; 10, 322 ≪325≫; 14, 534 ≪538≫).
b) Nach diesen Grundsätzen führt die Anrechnung der Hälfte der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F. auf die bereits nach Nr. 3103 RVG-VV reduzierte Verfahrensgebühr zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte freie Berufsausübung des Beschwerdeführers.
aa) Die teilweise Anrechnung lässt sich nicht mit einem typischerweise verminderten Arbeitsaufwand des Rechtsanwalts rechtfertigen. Zwar führt es zu Arbeitserleichterungen, denen durch Kürzungen der Vergütung Rechnung getragen werden kann, wenn ein Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit sowohl vorgerichtlich als auch gerichtlich tätig geworden ist. Auf dieser Erwägung beruht etwa die Anrechnungsregelung für die Geschäftsgebühren in Vorbemerkung 3 Absatz 4 zu Teil 3 RVG-VV (vgl. BTDrucks 15/1971, S. 209), die allerdings für Betragsrahmengebühren in sozialgerichtlichen Verfahren und damit auch in den vorliegenden Fällen schon dem Wortlaut nach nicht einschlägig ist. Für diese Gebühren trägt das gesetzliche Vergütungsverzeichnis den Synergieeffekten aufgrund der Vorbefassung des Rechtsanwalts im Verwaltungsverfahren dadurch Rechnung, dass der Gebührenrahmen der Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 RVG-VV durch die spezielle Regelung in Nr. 3103 von 40 EUR bis 460 EUR auf nur noch 20 EUR bis 320 EUR deutlich reduziert wird (vgl. BTDrucks 15/1971, S. 212).
Dass der Beschwerdeführer in den vorgerichtlichen Verfahren im Rahmen der Beratungshilfe tätig war, rechtfertigt keine weitere Reduzierung der Verfahrensgebühren. Die aufgrund der Vorbefassung entstehenden Synergieeffekte sind bereits durch den geringeren Gebührenrahmen nach Nr. 3103 RVG-VV berücksichtigt. Durch das Tätigwerden des Rechtsanwalts im Rahmen der Beratungshilfe erfahren sie keine Verstärkung, die eine nochmalige Honorarkürzung begründen könnte; vielmehr bleibt der Arbeitsaufwand im Vergleich zu dem vom Auftraggeber selbst finanzierten Mandat unverändert.
bb) Auch andere Gemeinwohlbelange konnten eine Anrechnung der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F. auf die reduzierte Verfahrensgebühr nicht rechtfertigen. Insbesondere lässt sich die Kürzung seines gegen die Staatskasse gerichteten Vergütungsanspruchs weder auf das Profitieren des Rechtsanwalts von einem verlässlichen solventen Gebührenschuldner noch auf das Ziel der Schonung öffentlicher Kassen stützen. Diese Umstände stellen zwar vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls dar und können daher als legitime Ziele für Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit auch die Kürzung einer vom Staat geschuldeten Vergütung rechtfertigen (vgl. BVerfGE 101, 331 ≪349≫; BVerfGK 6, 130 ≪133 f.≫; 10, 319 ≪320 f.≫; 10, 322 ≪325≫; 14, 534 ≪538≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 31. Oktober 2007 – 1 BvR 574/07 –, NJW 2008, S. 1063 ≪1064≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. August 2009 – 1 BvR 2889/06 –, NJW-RR 2010, S. 505 ≪506≫). Dieses Allgemeininteresse ist aber nach den maßgeblichen Vergütungsvorschriften schon dadurch berücksichtigt, dass die Beratungshilfe-Geschäftsgebühr mit pauschal 70 EUR (Nr. 2503 Abs. 1 RVG-VV) im Regelfall deutlich niedriger ist als der – von 40 EUR bis 520 EUR reichende – Gebührenrahmen der sonst vom Auftraggeber geschuldeten Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2400 RVG-VV. Eine nochmalige Berücksichtigung namentlich des Gemeinwohlziels der Schonung öffentlicher Kassen scheidet daher aus und kann nicht herangezogen werden, um die Angemessenheit des Eingriffs in die Berufsfreiheit durch eine weitere Honorarkürzung zu rechtfertigen.
c) Dies ist vom Sozialgericht in der angegriffenen Entscheidung nicht beachtet worden. Die von ihm bestätigte Kürzung der anwaltlichen Vergütung führt zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit des Beschwerdeführers. Das Fachgericht hat dabei die gebotene verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen Normen versäumt.
aa) Aus der grundsätzlichen Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ergibt sich das Gebot, ein Gesetz im Zweifel verfassungskonform auszulegen (vgl. BVerfGE 2, 266 ≪282≫; 122, 39 ≪60≫). Eine Norm ist erst dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist (vgl. BVerfGE 88, 145 ≪166≫). Zu den anerkannten Auslegungsgrundsätzen, die eine verfassungskonforme Auslegung ermöglichen können, zählt auch die teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs einer Norm (vgl. BVerfGE 88, 145 ≪166 f.≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. April 2000 – 1 BvL 18/99 u.a. –, NVwZ 2000, S. 910; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Dezember 2000 – 1 BvL 15/00 –, juris, Rn. 22). Sie ist dann vorzunehmen, wenn die auszulegende Vorschrift auf einen Teil der vom Wortlaut erfassten Fälle nicht angewandt werden soll, weil Sinn und Zweck der Norm, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 1997 – 1 BvL 11/96 –, NJW 1997, S. 2230 ≪2231≫).
bb) Mit Blick auf den Normzweck, eingetretene Arbeitserleichterungen des Rechtsanwalts durch geringere Gebühren auszugleichen, war vorliegend der Anwendungsbereich der Anrechnungsvorschrift aus Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F. einschränkend dahin auslegen, dass die teilweise Anrechnung der Beratungshilfe-Geschäftsgebühr auf die Gebühren für ein anschließendes sozialgerichtliches Verfahren dann nicht erfolgen soll, wenn die Verfahrensgebühr aus dem ohnehin reduzierten Gebührenrahmen der Nr. 3103 RVG-VV zu entnehmen ist. Denn mit der Verminderung der Verfahrensgebühr ist dem Synergieeffekt, der durch die erneute Befassung mit derselben Sache eingetreten ist, bereits hinreichend Rechnung getragen und damit der mit der Regelung erstrebte Gesetzeszweck erreicht. Diese telelogische Reduktion der Anrechnungsvorschrift vermeidet die geschilderte unverhältnismäßige Beschränkung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers und ist daher als verfassungskonforme Auslegung geboten.
Der neu angefügte zweite Halbsatz der Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV, der künftig eine Anrechnung auf die Gebühr Nr. 3103 RVG-VV ausschließt, gibt das Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung nunmehr auch im Gesetzestext wieder. Diese Interpretation entspricht zudem der bislang herrschenden sozialgerichtlichen Rechtsprechung, die die Anrechnungsregelung der Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F. nicht angewandt hat, wenn die Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 RVG-VV zu bemessen war (vgl. etwa SG Dresden, Beschluss vom 27. Februar 2009 – S 24 SF 180/08 R/F –, juris, Rn. 10 ff.; SG Aachen, Beschluss vom 27. Februar 2009 – S 9 AS 42/08 –, juris, Rn. 10 ff.; SG Augsburg, Beschluss vom 11. Mai 2009 – S 3 SF 100/09 E –, juris, Rn. 10 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 4. Januar 2010 – L 19 B 316/09 AS –, juris, Rn. 49; Beschluss vom 29. November 2010 – L 6 AS 52/10 B –, juris, Rn. 23 f.; SG Berlin, Beschluss vom 25. Januar 2010 – S 165 SF 1315/09 E –, juris, Rn. 3 ff.; SG Fulda, Beschluss vom 3. Januar 2011 – S 3 SF 43/10 E –, juris, Rn. 26 ff.).
Die in der fachgerichtlichen Rechtsprechung ebenfalls vertretene Auffassung, die nur einmalige Berücksichtigung der Synergieeffekte sei dadurch sicherzustellen, dass nicht der Anwendungsbereich der Anrechnungsregelung (Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F.) eingeschränkt, sondern anstelle der reduzierten Verfahrensgebühr aus Nr. 3103 RVG-VV der normale Gebührenrahmen der Nr. 3102 RVG-VV heranzuziehen sei (so das Bayer. LSG, Beschluss vom 4. November 2010 – L 15 B 617/08 SB KO –, juris, Rn. 17 ff.), würde ebenfalls eine unverhältnismäßige Beschränkung der Berufsfreiheit vermeiden. Es erscheint indes fraglich, bleibt aber zunächst der Entscheidung der Fachgerichte überlassen, ob auch mit einer solchen Interpretation den anerkannten Auslegungsgrundsätzen entsprochen wäre. Bedenken bestehen, weil dann die für mehrere Gerichtsbarkeiten geltende, allgemeine Regelung der Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F. die speziellere Regelung für sozialgerichtliche Betragsrahmengebühren aus Nr. 3103 RVG-VV verdrängen und die gesetzgeberische Entscheidung nicht respektieren würde, den Synergieeffekt bei Betragsrahmengebühren durch einen geringeren Gebührenrahmen bei der Verfahrensgebühr zu berücksichtigen. Zudem hinge dann die Art und Weise, wie der Synergieeffekt zu berücksichtigen ist, davon ab, ob der Rechtsanwalt vorgerichtlich auf Beratungshilfebasis tätig wurde oder nicht. Nur im ersten Fall erfolgte eine Anrechnung der halben Beratungshilfe-Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 Abs. 2 Satz 1 RVG-VV a.F. auf die nicht reduzierte Verfahrensgebühr der Nr. 3102 RVG-VV, während im zweiten Fall die reduzierte Verfahrensgebühr der Nr. 3103 RVG-VV ohne Anrechnung der Geschäftsgebühr der Nr. 2400 RVG-VV anzusetzen wäre. Für diese Differenzierung gibt es aber keinen einleuchtenden Grund; denn der Synergieeffekt beruht nicht auf der Beratungshilfe, sondern allein auf der Vorbefassung des Rechtsanwalts.
3. Da der angegriffene, beide Ausgangsverfahren betreffende Beschluss auf der Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG beruht, kann dahinstehen, ob der Beschwerdeführer noch in weiteren Grundrechten verletzt ist. Der Beschluss ist aufzuheben, die Verfahren sind jeweils an das Sozialgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1, 2 BVerfGG). Damit erhält das Sozialgericht Gelegenheit, auf der Grundlage der gebotenen verfassungskonformen Auslegung in beiden Ausgangsverfahren zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis zu gelangen.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes der anwaltlichen Tätigkeit aus § 37 Abs. 2 RVG.
Unterschriften
Gaier, Paulus, Britz
Fundstellen
Haufe-Index 2909291 |
AnwBl 2011, 867 |
AGS 2011, 603 |
RVGreport 2011, 428 |