Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 10.08.2006; Aktenzeichen 2 WF 162/06) |
Tenor
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 10. August 2006 – 2 WF 162/06 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Oldenburg zurückverwiesen.
- Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Streitwertfestsetzung in Ehesachen, wenn beiden Parteien Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung gewährt worden ist.
I.
Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einem Scheidungsverfahren mit bewilligter Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für beide Eheleute wurde er dem Ehemann beigeordnet.
1. Das Amtsgericht setzte den Streitwert für die Ehesache (§ 48 Abs. 3 Satz 2 des Gerichtskostengesetzes ≪GKG≫) auf 3.000 € fest. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer in eigenem Namen Beschwerde und wies darauf hin, dass das monatliche Nettoeinkommen für den Ehemann 1.309 € und für die Ehefrau 1.092,14 € betrage.
2. In seinem Nichtabhilfebeschluss hat das Amtsgericht die Auffassung vertreten, maßgeblich sei nicht das dreifache Nettoeinkommen der Parteien, weil beiden Parteien aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse Prozesskostenhilfe ohne Raten habe bewilligt werden müssen (unter Hinweis auf OLG Hamm, FamRZ 2004, S. 1297 und S. 1664).
Die sofortige Beschwerde blieb auch vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg. Der Streitwert sei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Umfangs und der Bedeutung der Sache und der Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Parteien, nach Ermessen zu bestimmen. Die Vermögens- und Einkommensverhältnisse seien daher nur ein Bemessungsfaktor. Das Bundesverfassungsgericht habe lediglich beanstandet, dass bei beiderseitiger Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung per se nur der Mindestwert von 2.000 € festgesetzt werde. Da es sich hier um ein einfaches Verfahren gehandelt habe, sei unter Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse der Parteien die Streitwertfestsetzung nicht zu beanstanden.
3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG.
4. Das Niedersächsische Justizministerium und die Parteien des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
1. Die Wertfestsetzung durch das Oberlandesgericht verletzt den Beschwerdeführer in seiner Berufsausübungsfreiheit.
a) Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat bereits mit Beschluss vom 23. August 2005 (BVerfGK 6, 130) ausgeführt, dass eine Auslegung der gesetzlichen Vorschriften zur Bestimmung des Streitwerts gegen die Verfassung verstößt, wenn sie dazu führt, dass der Streitwert in Ehesachen wegen der beiderseitigen Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe “stets” oder “im Regelfall” lediglich auf den Mindeststreitwert festgesetzt wird. Da der Streitwert auch für die Bemessung der Anwaltsvergütung maßgeblich ist, wird in solchen Fällen die Berufsfreiheit der beigeordneten Rechtsanwälte berührt. Dieser Eingriff in die Berufsfreiheit ist unverhältnismäßig, weil dem legitimen Ziel der Schonung öffentlicher Kassen bereits durch die Reduzierung der Vergütungssätze der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwälte in § 45 Abs. 1, § 49 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ≪RVG≫) umfassend Rechnung getragen worden ist.
b) Dem angegriffenen Beschluss liegt – wie in dem von der Kammer bereits entschiedenen Fall – eine Auslegung der gesetzlichen Regeln zur Streitwertberechnung (§ 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und 2 GKG) zugrunde, die in Verbindung mit den Vorschriften über die Maßgeblichkeit des festgesetzten Streitwerts für die Höhe der Vergütung von Rechtsanwälten (§ 32 Abs. 1 RVG) eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers zur Folge hat (vgl. BVerfGE 85, 248 ≪258≫; 97, 12 ≪27≫). Dies ergibt sich aus der Begründung der angegriffenen Entscheidung.
aa) Das Oberlandesgericht führt aus, nach § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG seien bei der Bestimmung des Streitwerts neben den Vermögens- und Einkommensverhältnissen alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Umfang und die Bedeutung der Sache, zu berücksichtigen. Insoweit besteht für verfassungsrechtliche Bedenken kein Anlass.
Allerdings ist das Oberlandesgericht zur Festsetzung eines Streitwerts von 3.000 € im konkreten Fall nur deshalb gelangt, weil es dem Umstand der Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe ausschlaggebende Bedeutung beigemessen hat. Deutlich wird dies daran, dass das Oberlandesgericht zwar ausführt, das Einkommen der Eheleute sei nur ein Bewertungsfaktor der Streitwertbemessung und es müsse auch berücksichtigt werden, dass es sich hier um ein einfaches Verfahren gehandelt habe. Es ist aber nicht erkennbar, dass das tatsächliche Einkommen der Parteien im konkreten Fall für das Oberlandesgericht von Bedeutung gewesen ist. Vielmehr lässt die angegriffene Streitwertfestsetzung das vom Gesetzgeber vorgegebene Kriterium der Anknüpfung an das dreifache Nettoeinkommen unberücksichtigt; denn der – nicht näher begründete – Hinweis, es habe sich um ein einfaches Verfahren gehandelt, ist nicht ausreichend, um bei einem Nettoeinkommen für drei Monate von mehr als 7.000 € einen Streitwert von lediglich 3.000 € nachvollziehbar zu begründen. Im Ergebnis teilt das Oberlandesgericht offenbar die im Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts ausdrücklich vertretene Meinung, wegen der Bewilligung ratenfreier Prozesskostenhilfe für beide Parteien komme es auf das dreifache Nettoeinkommen überhaupt nicht an.
bb) Soweit das Oberlandesgericht in diesem Zusammenhang ausführt, das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Beschluss vom 23. August 2005 lediglich beanstandet, dass bei beiderseitiger Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung per se der Mindeststreitwert von 2.000 € festgesetzt werde, lässt es die tragenden Gründe der Entscheidung außer Acht. Das Oberlandesgericht übersieht, dass nicht das Ergebnis der Festsetzung des Mindeststreitwerts, sondern jede erneute Berücksichtigung fiskalischer Interessen zur Begründung einer gegenüber dem gesetzlichen Ausgangswert – des in drei Monaten erzielten Nettoeinkommens – geringeren Streitwertfestsetzung zur Unverhältnismäßigkeit der damit einhergehenden Beschränkung der Berufsfreiheit führt. Unerheblich ist, dass nicht der Mindeststreitwert festgesetzt wurde; denn auch ein weniger intensiver Eingriff in die Berufsfreiheit beschränkt diese unverhältnismäßig, wenn er nicht durch einen legitimen und nicht bereits anderweitig berücksichtigten Gemeinwohlbelang gerechtfertigt ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2006 – 1 BvR 2139/05 –).
2. Hiernach ist der Beschluss des Oberlandesgerichts gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es auf die weiter noch erhobene Rüge ankommt. Die Sache selbst ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen
Haufe-Index 1703668 |
FamRZ 2007, 1080 |
AnwBl 2007, 380 |
FF 2007, 140 |