Verfahrensgang
OLG Hamm (Beschluss vom 18.09.2009; Aktenzeichen 12 UF 170/09) |
AG Essen (Urteil vom 12.05.2009; Aktenzeichen 104 F 33/09) |
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts Essen vom 12. Mai 2009 – 104 F 33/09 – und der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 18. September 2009 – 12 UF 107/09 – verletzen die Beschwerdeführerin zu 1) in ihrem Grundrecht aus Artikel 16 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und die Beschwerdeführerin zu 2) in ihrem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil und der Beschluss werden aufgehoben, die Sache wird an das Amtsgericht Essen zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführerinnen ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
3. Der Gegenstandswert für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 EUR (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführerinnen gegen Entscheidungen, die das Nichtbestehen der Vaterschaft nach einem Vaterschaftsanfechtungsverfahren nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB feststellen.
1. Die Beschwerdeführerin zu 2) ist die Mutter der im April 2004 geborenen Beschwerdeführerin zu 1), für die kurz nach der Geburt ein deutscher Mann mit Zustimmung der Beschwerdeführerin zu 2) die Vaterschaft anerkannt hatte. Im März 2009 erhob die anfechtungsberechtigte Behörde eine Vaterschaftsanfechtungsklage nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB gegen die Beschwerdeführerin zu 1) und deren rechtlichen Vater; die Beschwerdeführerin zu 2) trat dem Verfahren als Streithelferin auf Seiten der Beklagten bei. Das Amtsgericht Essen stellte mit Urteil vom 12. Mai 2009 fest, dass der bisherige rechtliche Vater nicht der Vater der Beschwerdeführerin zu 1) ist. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 18. September 2009 als unbegründet zurück.
2. Die Verfassungsbeschwerde rügt unter anderem, die Beschwerdeführerin zu 1) sei in ihrem grundrechtlich geschützten Vertrauen auf den Fortbestand ihrer rechtmäßig erworbenen deutschen Staatsangehörigkeit verletzt. Die Vorschriften zur Behördenanfechtung griffen in das Familienleben der Beschwerdeführerinnen ein. Die Beschwerdeführerin zu 2) sei außerdem in ihrem Recht verletzt, als Mutter im Wege der Vaterschaftsanerkennung ohne staatliche Kontrolle der biologischen Verhältnisse oder der Motive eine gemeinsame rechtliche Elternschaft nach den allgemeinen Vorschriften des Abstammungsrechts begründen zu können.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde hatten die anfechtungsberechtigte Behörde, das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und der Mann, dessen Vaterschaft durch die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben wird, Gelegenheit zur Äußerung. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerinnen angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist mit Blick auf die für den vorliegenden Fall maßgeblichen und durch das Bundesverfassungsgericht bereits hinreichend geklärten Fragen offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Entscheidungen greifen in Grundrechte der Beschwerdeführerinnen ein. Da das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 17. Dezember 2013 – 1 BvL 6/10 – festgestellt hat, dass § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB verfassungswidrig und nichtig ist, fehlt es für diese Eingriffe an einer gesetzlichen Grundlage.
2. Die angegriffenen Entscheidungen waren nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Folglich hat das Amtsgericht Essen über den Antrag der anfechtungsberechtigten Behörde auf Feststellung des Nichtbestehens der Vaterschaft – sofern dieser aufrechterhalten wird – erneut zu entscheiden.
3. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Mit der Anordnung der Auslagenerstattung erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts (vgl. BVerfGE 62, 392 ≪397≫; 71, 122 ≪136 f.≫; 105, 239 ≪252≫).
4. Grundlage der Festsetzung des Gegenstandswerts für das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist § 37 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Kirchhof, Eichberger, Britz
Fundstellen