Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückweisung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung von Verfahrensrügen
Leitsatz (redaktionell)
Begehrt ein Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren Wiedereinsetzung nicht wegen der Versäumung einer Frist, sondern weil ihm nach Ablauf dieser Frist ein neuer sachlicher Gesichtspunkt – z. B. in Gestalt einer neuen höchstrichterlichen Entscheidung – bekannt geworden ist, aus dem sich seiner Auffassung nach unter einem neuen Gesichtspunkt eine weitere Grundrechtsverletzung ergibt, kommt Wiedereinsetzung nicht in Betracht. Die Möglichkeit, Wiedereinsetzung zur Nachholung von Verfahrensrügen zu beantragen, wurde durch die Aufnahme des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in das BVerfGG (durch BVerfGGÄndG 5) nicht eröffnet.
Normenkette
BVerfGG § 93 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
BGH (Urteil vom 14.07.1995; Aktenzeichen 5 StR 532/94) |
LG Berlin (Urteil vom 07.02.1994; Aktenzeichen (519b/519) 1 Bt Js 380/91 KLs (7/93)) |
Tatbestand
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Februar 1994 wegen Untreue zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und im übrigen freigesprochen. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Beschwerdeführers wurde vom Bundesgerichtshof durch Urteil vom 14. Juli 1995 als unbegründet verworfen. Mit seiner rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde machte der Beschwerdeführer u.a. eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geltend, weil an der Entscheidung des Landgerichts zwei Richterinnen auf Probe mitgewirkt hatten. Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 DRiG in der Fassung des Rechtspflegeentlastungsgesetzes vom 11. Januar 1993 (BGBl I S. 50), die dies im Hinblick auf die besondere Belastung der deutschen Justiz durch die Wiedervereinigung für eine Übergangszeit zuläßt, sei verfassungswidrig, da die Unabhängigkeit von Richtern auf Probe erheblichen Einschränkungen unterliege und sie nicht als Richter im Sinne von Art. 97 Abs. 1 GG angesehen werden könnten. Im übrigen sei die Besetzung der für ihn zuständigen Hilfsstrafkammer des Landgerichts aufgrund ermessensfehlerhafter Erwägungen des Präsidiums erfolgt. Tatsächlich war jedoch eine der beiden Richterinnen auf Probe bereits vor Beginn der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer zur Richterin auf Lebenszeit gewählt worden; mit Ablauf des siebten Verhandlungstages wurde ihr die Ernennungsurkunde ausgehändigt.
Durch Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. September 1995 wurde die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
2. Mit Schreiben vom 29. September 1995, beim Bundesverfassungsgericht eingegangen am 4. Oktober 1995, beantragt der Beschwerdeführer nunmehr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde. Bei Abfassung der Beschwerdebegründung sei ihm nicht bekannt gewesen, daß der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs am 13. Juli 1995, also einen Tag vor der Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in seiner Sache, entschieden habe, § 29 Abs. 1 DRiG in der erwähnten Fassung sei dahin auszulegen, daß zwei Richter auf Probe nur bei sachlicher Notwendigkeit im konkreten Fall mitwirken dürften. Da der 5. Strafsenat in dem mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Urteil eine solche sachliche Notwendigkeit für nicht erforderlich gehalten habe, habe eine Divergenz zur Entscheidung des V. Zivilsenats vorgelegen. Gemäß § 132 Abs. 2 GVG hätten die Vereinigten Großen Senate über diese Rechtsfrage entscheiden müssen. Auch insoweit sei sein Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt worden. Innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG habe er dies jedoch nicht vortragen können, da ihm die Entscheidung des V. Zivilsenats erst am 27. September 1995 durch Lektüre von Heft 39/1995 der Neuen Juristischen Wochenschrift bekannt geworden sei. Deshalb müsse ihm insoweit Wiedereinsetzung gewährt werden.
Unter Wiederholung seines Vortrags aus dem durch Nichtannahme erledigten Verfassungsbeschwerde-Verfahren erhebt der Beschwerdeführer erneut Verfassungsbeschwerde und beantragt im Hinblick auf die zu erwartende Ladung zum Strafantritt den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Entscheidungsgründe
II.
1. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die Voraussetzungen des § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG liegen nicht vor.
Nach dieser durch die Fünfte Novelle zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz 1993 eingefügten Vorschrift ist einem Beschwerdeführer auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn er ohne Verschulden gehindert war, die Monatsfrist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde einzuhalten. Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer diese Frist jedoch nicht versäumt. Er hat innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG die Verfassungsbeschwerde sowohl erhoben als auch begründet. Tatsächlich begehrt er Wiedereinsetzung nicht wegen der Versäumung einer Frist, sondern weil ihm nach Ablauf dieser Frist ein neuer sachlicher Gesichtspunkt – hier in Gestalt einer neuen höchstrichterlichen Entscheidung – bekannt geworden ist, aus dem sich seiner Auffassung nach unter einem neuen Gesichtspunkt eine weitere Grundrechtsverletzung ergibt. In einem solchen Fall kommt jedoch Wiedereinsetzung nicht in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach hervorgehoben, daß der Einhaltung der Frist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde im Interesse der Rechtssicherheit große Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 4, 309 ≪313 ff.≫; 78, 7 ≪15 f.≫). Dieser Gesichtspunkt hat auch nach Inkrafttreten der Fünften Novelle zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz 1993 nicht an Gewicht verloren. Die Aufnahme des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändert nichts am besonderen Charakter der Verfassungsbeschwerde, durch die es dem Bundesverfassungsgericht möglich ist, über den Rahmen des Instanzenzuges hinaus die Rechtskraft von Entscheidungen aufzuheben. Damit besteht ein wesentlicher Unterschied etwa zu der im strafprozessualen Revisionsrechtszug eröffneten Möglichkeit, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung von Verfahrensrügen zu beantragen, wobei auch diese Möglichkeit nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben muß.
2. Die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hätte jedoch auch in der Sache keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es ist zwar denkbar, daß jemand seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen wird, daß ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht außer acht läßt. Dies gilt auch dann, wenn der Spruchkörper, dem vorzulegen ist, nur über eine bestimmte Rechtsfrage zu entscheiden hat (vgl. BVerfGE 3, 359 ≪364≫; 9, 213 ≪215 f.≫). Abgesehen davon, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG insoweit nur Schutz gegen Willkür und nicht gegen Irrtum gewährt (vgl. BVerfGE 6, 45 ≪53≫), wären im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für eine Anrufung der Vereinigten Großen Senate mangels Divergenz zwischen den beiden erwähnten Entscheidungen nicht erfüllt. Dem Urteil des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 14. Juli 1995 ist nicht zu entnehmen, daß auf das Vorliegen einer sachlichen Notwendigkeit im Einzelfall bei der Auslegung von § 29 Abs. 1 DRiG in der Fassung des Rechtspflegeentlastungsgesetzes verzichtet werden soll. Das Präsidium des Landgerichts hat sich zu der im Revisionsverfahren aufgeworfenen Frage der fehlerhaften Besetzung durch zwei Richterinnen auf Probe eingehend und fallbezogen geäußert. Den Ausführungen im Urteil des Bundesgerichtshofs ist zu entnehmen, daß diese Stellungnahme insbesondere im Hinblick auf die kurz nach Beginn der Hauptverhandlung erfolgte Ernennung einer Richterin auf Probe zur Richterin auf Lebenszeit berücksichtigt wurde.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen