Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtannahmebeschluss: Mitwirkung eines seit mehreren Jahren abgeordneten Richters an Entscheidung eines LSG verletzt Art 101 Abs 1 S 2 GG. hier: Verfassungsbeschwerde bzgl PKH-Versagung im sozialgerichtlichen Verfahren nach Erledigung unzulässig. Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses nicht dargelegt. Anordnung der Auslagenerstattung aus Billigkeitsgründen (§ 34a Abs 2 BVerfGG) mit Blick auf ursprüngliche Erfolgsaussichten
Normenkette
GG Art. 97 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 S. 2; BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2, §§ 34a, 92; SGG § 30 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Mecklenburg-Vorpommern (Beschluss vom 19.06.2017; Aktenzeichen L 7 R 165/16) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Ablehnung eines Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Berufungsverfahren.
Rz. 2
1. Die Beschwerdeführerin machte vor den Sozialgerichten einen Anspruch auf Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente geltend. Die nach erstinstanzlicher Klageabweisung im Berufungsrechtszug beantragte Prozesskostenhilfe wurde mangels Erfolgsaussichten aus den Gründen des taggleich erlassenen, die Berufung zurückweisenden Beschlusses abgelehnt. An beiden Beschlüssen wirkte ein an das Landessozialgericht abgeordneter Richter am Sozialgericht mit.
Rz. 3
Gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Berufungsrechtszug hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie macht geltend, durch die Versagung der Prozesskostenhilfe in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt zu sein.
Rz. 4
2. Auf die gleichzeitig gegen den die Berufung zurückweisenden Beschluss gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde verwies das Bundessozialgericht unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurück. Der erkennende Berufungssenat sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, weil der mitwirkende Richter am Sozialgericht über den Zeitraum der Erprobung hinaus aufgrund einer strukturell unzureichenden Planstellenausstattung des Landessozialgerichts und nicht aufgrund eines zeitweiligen außergewöhnlichen Arbeitsanfalls abgeordnet gewesen sei (BSG, Beschluss vom 25. Mai 2018 - B 13 R 217/17 B -, juris).
Rz. 5
3. Das Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, die frühere Präsidentin des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern, die Gegnerin des Ausgangsverfahrens, der Deutsche Richterbund, die Neue Richtervereinigung e.V. sowie der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen. Daraus ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin in dem nach Aufhebung und Zurückverweisung fortgesetzten Berufungsrechtszug durch rechtskräftiges Urteil überwiegend obsiegt hat und sie zwei Drittel der Kosten des Rechtsstreits vom Prozessgegner erstattet erhält. Zudem ist ihr nunmehr - ohne Mitwirkung eines abgeordneten Richters - Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren bewilligt worden.
II.
Rz. 6
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil kein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG vorliegt und auch sonst kein Grund für ihre Annahme ersichtlich ist. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig; damit hat sie keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫).
Rz. 7
1. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde, weil aus ihrer Begründung nicht hervorgeht, dass noch ein Rechtsschutzbedürfnis für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts besteht.
Rz. 8
a) Ein Beschwerdeführer ist angehalten, seine Verfassungsbeschwerde bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls auch nachträglich zu ergänzen (vgl. BVerfGE 106, 210 ≪214 f.≫; 158, 170 ≪194 Rn. 57≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Mai 2020 - 1 BvR 273/16 -, Rn. 5; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Oktober 2021 - 1 BvR 1416/17 -, Rn. 7). Ihn trifft eine aus § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG fließende Begründungslast für das (Fort-)Bestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Denn der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde dient primär der Durchsetzung subjektiver von der Verfassung gewährter Rechtspositionen, die nicht bereits anderweitig durchgesetzt sind oder absehbar durchgesetzt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Oktober 2021 - 1 BvR 1416/17 -, Rn. 7).
Rz. 9
b) Dieser Begründungslast ist die Beschwerdeführerin nicht nachgekommen, obschon Anlass dafür bestand, von einer entscheidungserheblichen Veränderung der Sachlage auszugehen. Im Zeitpunkt ihrer Erhebung bestand für die Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe ein Rechtsschutzbedürfnis. In der Folge ist das Kostenrisiko allerdings insoweit entfallen, wie die Prozessgegnerin der Beschwerdeführerin aufgrund des rechtskräftigen Berufungsurteils endgültig kostenerstattungspflichtig geworden und der Beschwerdeführerin im Übrigen nach Aufhebung und Zurückverweisung Prozesskostenhilfe für den gesamten Berufungsrechtszug bewilligt worden ist (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. August 2015 - 1 BvR 3474/13 -, Rn. 9). Bei dieser Sachlage hätte es ergänzenden Vortrags dazu bedurft, ob und inwieweit das Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde fortbesteht. Demgegenüber hat die Beschwerdeführerin selbst auf die Übersendung der ergänzend angeforderten Stellungnahmen der Verbände und den Hinweis, dass die Verfahrensakte (erneut) beigezogen werde, nicht zum weiteren Gang des Berufungsverfahrens vorgetragen.
Rz. 10
2. Ein fortwirkendes Rechtsschutzinteresse besteht nicht. Weder sind verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären, noch ist eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen oder eine fortdauernde Beeinträchtigung der Beschwerdeführerin zu erkennen (vgl. BVerfGE 33, 247 ≪257 f.≫; 69, 161 ≪168≫; 81, 138 ≪140 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. November 2018 - 1 BvR 1481/18 -, Rn. 4; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. März 2019 - 1 BvR 2535/16 -, Rn. 8; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juli 2019 - 1 BvR 363/19 -, Rn. 3). Die grundsätzlichen Fragen zur Vereinbarkeit des Einsatzes abgeordneter Richterinnen und Richter mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
Rz. 11
a) Wegen der Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für den Rechtsschutzauftrag der Gerichte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz sind die Gerichte grundsätzlich mit hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richtern zu besetzen. Die Verwendung von Richtern ohne diese Garantie der persönlichen Unabhängigkeit muss die Ausnahme bleiben. Das Grundgesetz setzt als Normalfall den Richter voraus, der unversetzbar und unabsetzbar ist (vgl. BVerfGE 4, 331 ≪345≫). Haben bei einer Entscheidung ohne zwingende Gründe Richter mitgewirkt, die nicht hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellt sind, so ist das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt (vgl. BVerfGE 14, 156 ≪162≫; 148, 69 ≪95 Rn. 66≫; BVerfGK 10, 355 ≪358 f.≫).
Rz. 12
Richter, die nach dem Maßstab des Art. 97 Abs. 2 GG nicht in vollem Umfang persönliche Unabhängigkeit genießen - insbesondere Richter auf Probe und Richter kraft Auftrags -, dürfen nur aus zwingenden Gründen und auf das unverzichtbare Maß beschränkt herangezogen werden. So gelten für die Heranziehung von Richtern auf Probe die Grenzen, die sich nach verständigem Ermessen aus der Notwendigkeit ergeben, Nachwuchs heranzubilden (vgl. BVerfGE 4, 331 ≪345≫; 14, 156 ≪162≫). Zwingende Gründe liegen auch vor, wenn Richter zur Eignungserprobung abgeordnet werden (vgl. BVerfGE 148, 69 ≪95 f. Rn. 67≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2006 - 2 BvR 957/05 -, Rn. 7). Solche Gründe können ferner dann bestehen, wenn vorübergehend ausfallende planmäßige Richter durch die im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertreter nicht hinreichend ersetzt werden können oder wenn ein zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall aufzuarbeiten ist. Die Verwendung nicht vollständig persönlich unabhängiger Richter ist demgegenüber nicht gerechtfertigt, wenn die Arbeitslast des Gerichts nicht bewältigt werden kann, weil es unzureichend mit Planstellen ausgestattet ist oder weil die Justizverwaltung es versäumt hat, offene Planstellen binnen angemessener Frist zu besetzen (BVerfGE 14, 156 ≪164 f.≫; 148, 69 ≪95 f. Rn. 67≫).
Rz. 13
b) Diese Grundsätze finden auch auf die Abordnung von auf Lebenszeit ernannten Richterinnen und Richtern Anwendung, wie der anerkannte Abordnungsgrund der Eignungserprobung, die allein diesen Personenkreis betrifft, belegt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 2006 - 2 BvR 957/05 -, Rn. 7).
Rz. 14
Zwar verfügen die an ein anderes Gericht abgeordneten planmäßigen Richterinnen und Richter bezogen auf ihre Stammdienststelle über persönliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 97 Abs. 2 GG, sind aber durch diese nicht geschützt, soweit "das Abordnungsverhältnis betroffen" ist (vgl. BVerfGE 148, 69 ≪93 f. Rn. 63≫; Meyer, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 97 Rn. 119). Der Umstand, dass die Entscheidung über eine Abordnung sowie über sich gegebenenfalls anschließende Folgeabordnungen der Justizverwaltung obliegt, eröffnet dieser den kontrollierenden Zugriff darüber, ob der - abordnungswillige (vgl. das Zustimmungserfordernis in § 37 Abs. 1 DRiG) - Richter seine Tätigkeit an dem anderen Gericht aufnehmen oder - bezogen auf den Fall der Folgeabordnung - dort fortführen darf (vgl. zu ähnlichen Erwägungen betreffend die Wiederernennung eines Richters auf Zeit: BVerfGE 148, 69 ≪128 f. Rn. 147≫). Mit der Begrenzung solcher Einwirkungsmöglichkeiten soll der Gefahr des "Belohnens" oder "Abstrafens" für ein bestimmtes Entscheidungsverhalten begegnet werden (vgl. BVerfGE 148, 69 ≪91 Rn. 59≫). Hinzu kommt, dass die richterliche Unabhängigkeit auch durch die amtsangemessene Besoldung der Richterinnen und Richter zu gewährleisten ist (vgl. BVerfGE 139, 64 ≪122 Rn. 121≫). Damit geriete es in Konflikt, wenn Richterinnen und Richter, auch wenn sie bereits auf Lebenszeit ernannt sind, auf Grundlage einer Abordnung auf Dauer die Tätigkeit eines statushöheren Amtes ausübten.
Rz. 15
c) Die Feststellung eines - eine Abordnung rechtfertigenden - zeitweiligen außergewöhnlichen Arbeitsanfalls in Abgrenzung zu einer unzureichenden Ausstattung des Gerichts mit planmäßigen Richterinnen und Richtern erfordert die Prognose, dass an einem konkreten Gericht mit dem vorhandenen Personal bei regelgerechter Bearbeitung der Streitsachen überlange Verfahrenslaufzeiten (§ 198 GVG) drohen, aber die Schaffung weiterer Lebenszeitstellen nicht gerechtfertigt erscheint. Maßgebliche Prognosegrundlage ist die für einen überschaubaren Zeitraum zu erwartende Eingangsbelastung. Eine zu erwartende Dauerbelastung des Gerichts kann die Abordnung eines planmäßigen Richters - auch nicht in der Erwartung, diese werde sich in fernerer Zukunft reduzieren - nicht rechtfertigen (vgl. BVerfGE 148, 69 ≪118 f. Rn. 121 ff.≫ zum Einsatz von Richtern auf Zeit nach § 18 VwGO).
Rz. 16
d) Die vorstehenden Maßgaben binden nicht nur die Justizverwaltung, welche die im Stellenplan des Haushaltsgesetzes ausgebrachten Planstellen den einzelnen Gerichten bedarfsgerecht zuzuweisen und zu besetzen hat, sondern auch und insbesondere den Haushaltsgesetzgeber, der für eine zureichende Personalausstattung der Justiz insgesamt Sorge tragen muss. Haushaltsrechtliche Sparzwänge erlauben keine Alternative zur Ernennung von Richtern auf Lebenszeit (vgl. BVerfGE 148, 69 ≪119 Rn. 123≫).
Rz. 17
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a BVerfGG. Die Erstattung der Auslagen an die Beschwerdeführerin entspricht der Billigkeit, weil die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg hatte. Ausweislich der Stellungnahmen der (früheren) Präsidentin des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern, denen das Landesjustizministerium nicht entgegengetreten ist, erfolgte der mehrjährige Einsatz des abgeordneten Richters am Sozialgericht über die Zeit der Eignungserprobung hinaus aufgrund einer unzureichenden Planstellenausstattung des Landessozialgerichts, die dem Ministerium über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg mehrfach angezeigt wurde. Eine solche strukturell unzureichende Planstellenausstattung vermochte nach den vorstehenden Maßstäben die (Folge-)Abordnung des Richters am Sozialgericht an das Landessozialgericht nicht zu rechtfertigen, so dass der erkennende Senat nicht ordnungsgemäß besetzt und die Beschwerdeführerin durch den Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt war.
Rz. 18
4. Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren hat sich in Ansehung der Kostenerstattungspflicht des Landes Mecklenburg-Vorpommern erledigt (vgl. BVerfGE 62, 392 ≪397≫; 71, 122 ≪136 f.≫; 105, 239 ≪252≫).
Rz. 19
5. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Rz. 20
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Dokument-Index HI15507889 |