Rz. 48
Die gesetzliche Neuregelung im Rahmen der Erbrechtsreform 2010 und das damit verbundene allgemeine Wahlrecht des Pflichtteilsberechtigten, die Erbschaft ausschlagen zu können, um seinen Pflichtteil geltend zu machen, vermeidet zwar das Risiko, durch die Ausschlagung eines belasteten Erbteils alles zu verlieren. Das generelle Wahlrecht bringt aber auch Nachteile mit sich: Der Pflichtteilsberechtigte muss sich immer entscheiden. Die Möglichkeit, einen unbelasteten (aber hinter der Hälfte des gesetzlichen Erbteils zurückbleibenden) Erbteil zu erlangen, besteht nicht mehr. Entscheidet sich daher der Pflichtteilsberechtigte zur Annahme des ihm Hinterlassenen, so nimmt er damit das Risiko in Kauf, Beschränkungen und Beschwerungen akzeptieren zu müssen, deren wirtschaftlichen Wert er vielleicht noch gar nicht konkret abschätzen kann. Im Kern geht es bei der Ausschlagungsentscheidung um eine wirtschaftliche Abwägung. Diese ist aber nur schwer zu treffen, wenn nicht alle wertbeeinflussenden Faktoren bekannt sind. Im Hinblick auf die i.d.R. nur sechswöchige Ausschlagungsfrist ist eine umfassende Bewertung des Nachlasses oftmals nicht möglich, so dass die Ausschlagungsentscheidung auf der Grundlage bestimmter Annahmen getroffen werden muss.
Rz. 49
Diese Situation birgt das Risiko, dass der Pflichtteilsberechtigte bei der Entscheidung über die Ausschlagung hinsichtlich maßgeblicher Entscheidungsgrundlagen im Irrtum ist. Zum alten Recht hatte der BGH entschieden, dass selbst ein Rechtsirrtum zur Anfechtung berechtigen könne, nämlich dann, wenn der Pflichtteilsberechtigte die Rechtsfolgen der Annahme einer belasteten Erbschaft verkannt hatte. Ein solcher Rechtsirrtum ist heute praktisch nicht mehr denkbar, weil dem Pflichtteilsberechtigten – wie ausgeführt – stets ein Wahlrecht zusteht und mit dessen Ausübung nicht mehr das Risiko des Pflichtteilsverlusts verbunden ist. Dessen ungeachtet geht der BGH nach wie vor davon aus, dass auch ein als Erbe eingesetzter Pflichtteilsberechtigter die Annahme der Erbschaft anfechten könne, wenn er irrig davon ausgegangen war, dass eine Ausschlagung auch zum Verlust des Pflichtteilsanspruchs führe.
Rz. 50
Auch die Anfechtung wegen eines Tatsachenirrtums, insbesondere eines Eigenschaftsirrtums nach § 119 Abs. 2 BGB, dürfte sich schwierig gestalten. Möglich ist eine Anfechtung sicherlich dann, wenn der Pflichtteilsberechtigte über die Nachlasszugehörigkeit bestimmter Gegenstände bzw. das Nichtvorhandensein bestimmter Nachlassverbindlichkeiten im Irrtum ist. Ein solcher Irrtum rechtfertigt sowohl die Anfechtung der Annahme der Erbschaft als auch die Anfechtung ihrer Ausschlagung. Demgegenüber kann ein Irrtum über (vermutete) Wertverhältnisse eine Anfechtung prinzipiell nicht rechtfertigen, da der Wert keine Eigenschaft i.S.v. § 119 Abs. 2 BGB darstellt. Ob dies auch dann gilt, wenn sich der Irrtum ganz konkret auf die Werthaltigkeit der in Rede stehenden Beschränkungen/Beschwerungen bezieht, ist nicht völlig klar. Angesichts einer fehlenden gesetzlichen Grundlage erscheint eine Zulassung der Irrtumsanfechtung bei Bewertungsfehlern aber grundsätzlich zweifelhaft. Zusätzliche Schwierigkeiten sind darüber hinaus immer dann zu erwarten, wenn der Pflichtteilsberechtigte ganz bewusst seine Entscheidung auf der Grundlage unvollständiger oder gar gänzlich fehlender Informationen über den Nachlass trifft bzw. treffen muss. Denn in dieser Situation liegt im Zweifel überhaupt kein Irrtum vor.
Rz. 51
Die Pflichtteilsgeltendmachung setzt im Falle des Abs. 1 S. 2 die Ausschlagung der Erbschaft voraus. In der bloßen Geltendmachung des Pflichtteils liegt im Hinblick auf die grundsätzliche Formbedürftigkeit, § 1945 BGB, keine (konkludente) Ausschlagung des Erbteils. Für die Ausschlagung gelten grundsätzlich die Fristen des § 1944 BGB. Abs. 1 S. 2 Hs. 2 trifft aber eine klarstellende Sonderregelung für den Fristbeginn: Dieser setzt voraus, dass der Pflichtteilsberechtigte nicht nur vom Anfall der Erbschaft und dem Berufungsgrund, sondern auch von den ihn treffenden Beschränkungen und Beschwerungen Kenntnis haben muss. Die Voraussetzungen von § 1944 u. § 2306 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BGB müssen also kumulativ vorliegen. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn der Pflichtteilsberechtigte bei der Testamentseröffnung anwesend war oder ihm das Testament später gem. § 2262 BGB bzw. heute gemäß § 348 Abs. 3 FamFG zur Kenntnisnahme übermittelt wurde. Bei Geschäftsunfähigkeit oder Minderjährigkeit des Pflichtteilsberechtigten ist auf die Kenntniserlangung seines gesetzlichen Vertreters abzustellen. Eine Annahme des belasteten Erbteils ist auch vor Ende der Ausschlagungsfrist, ja sogar vor Kenntnis der Belastungen und damit sogar vor Beginn der Ausschlagungsfrist möglich.
Rz. 52
Ein Irrtum des Erben über die Wirksamkeit der ihn belastenden Verfügung bzw. einzelne darin angeordnete Belastungen führt dazu, dass er nicht in der Lage is...