Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Strafverfahren. Untersuchungshaft der beschuldigten Person. Auswirkungen eines Vorabentscheidungsersuchens auf das Ausgangsverfahren. Weigerung des vorlegenden Gerichts, das Verfahren in der Sache fortzusetzen, bevor die Antwort des Gerichtshofs eingegangen ist. Beschleunigungsgebot in Strafverfahren und insbesondere in Haftsachen. Ablehnungsgesuch gegen den zuständigen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit
Normenkette
AEUV Art. 267
Beteiligte
Tenor
1.Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass im Rahmen eines Strafverfahrens, das aufgrund der Inhaftierung des Beschuldigten einem Beschleunigungsgebot unterliegt, ein nationales Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, das Ausgangsverfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs auf dieses Ersuchen fortsetzt, indem es Verfahrenshandlungen vornimmt, die einen Zusammenhang mit den Vorlagefragen aufweisen.
2.Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Richter allein deshalb mit Erfolg abgelehnt werden kann, weil er die Entscheidung des Gerichtshofs über das ihm vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen abwartet, obwohl das Ausgangsverfahren eine inhaftierte Person betrifft.
Tatbestand
In der Rechtssache C-288/24 [Stegmon](
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Berlin I (Deutschland) mit Beschluss vom 23. April 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 24. April 2024, in dem Strafverfahren gegen
M. R.,
Beteiligte:
Staatsanwaltschaft Berlin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen M. R. und betrifft die Rechtmäßigkeit eines Ablehnungsgesuchs der Staatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) gegen einen Richter.
Deutsches Recht
Rz. 3
Das allgemeine Beschleunigungsgebot in Strafsachen folgt aus dem im Grundgesetz verankerten Rechtsstaatsprinzip.
Rz. 4
Nach § 24 der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. 1987 I S. 1074, 1319), geändert durch Gesetz vom 27. März 2024 (BGBl. 2024 I Nr. 109) (im Folgenden: StPO), kann die Staatsanwaltschaft, der Privatkläger oder der Beschuldigte einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen; die Ablehnung findet statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen.
Rz. 5
Nach § 27 Abs. 1 StPO entscheidet der Spruchkörper, dem der abgelehnte Richter angehört, ohne dessen Mitwirkung über das Ablehnungsgesuch.
Rz. 6
§ 121 Abs. 1 StPO sieht vor, dass bis zum Erlass des Urteils der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulässt und die Fortdauer der Haft rechtfertigt. Nach § 121 Abs. 3 StPO ruht der Fristablauf allerdings, sofern die Hauptverhandlung innerhalb der Sechs-Monats-Frist begonnen hat.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 7
Das Ausgangsverfahren betrifft gegen M. R. erhobene Vorwürfe des Handels mit Betäubungsmitteln. Diese Vorwürfe beruhen auf Erkenntnissen aus der Auswertung von Daten, die von Mobiltelefonen mit einer Software namens „EncroChat“ stammen, die eine Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation ermöglichte.
Rz. 8
Im Rahmen dieses Verfahrens erging ein Haftbefehl gegen M. R. Er wurde erstmals am 4. Mai 2023 in Untersuchungshaft genommen.
Rz. 9
Mit Beschluss vom 29. Juni 2023 ließ das Landgericht Berlin (Deutschland) erstens die Anklage unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zu. Zweitens setzte es das Verfahren aus, um dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) zu unterbreiten; dieses Ersuchen wurde bei der Kanzlei des Gerichtshofs unter dem Aktenzeichen Staatsanwaltschaft Berlin II (C-675/23) eingetragen. Drittens hob es im Hinblick auf den ungewissen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtshofs den Haftbefehl gegen M. R. auf.
Rz. 10
Am 30. Juni 2023 legte die Staatsanwaltschaft Berlin gegen diesen Beschluss Beschwerde ein, soweit der Haftbefehl aufgehoben worden war. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) trat der Beschwerde am 10. Juli 2023 bei.
Rz. 11
Mit Beschlu...