Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2005/214/JI. Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen oder Geldbußen, die gegen juristische Personen verhängt werden. Unvollständige Umsetzung eines Rahmenbeschlusses. Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Umfang
Beteiligte
Centraal Justitieel Incassobureau, Ministerie van Veiligheid en Justitie (CJIB) |
Tenor
1. Der Begriff „juristische Person”, der u. a. in Art. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung enthalten ist, ist nach dem Recht des Staates auszulegen, der die Entscheidung zur Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße erlässt.
2. Der Rahmenbeschluss 2005/214 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er ein Gericht eines Mitgliedstaats nicht dazu verpflichtet, eine mit Art. 9 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung unvereinbare Bestimmung des nationalen Rechts unangewandt zu lassen, da diese Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat. Das vorlegende Gericht ist jedoch im Rahmen des Möglichen zu einer konformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet, um ein Ergebnis zu gewährleisten, das mit dem Zweck vereinbar ist, der mit dem Rahmenbeschluss 2005/214 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung verfolgt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sad Rejonowy Gdańsk-Poludnie w Gdańsku (Kreisgericht Danzig-Süd, Danzig, Polen) mit Entscheidung vom 26. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 9. März 2018, in dem Verfahren
Centraal Justitieel Incassobureau, Ministerie van Veiligheid en Justitie (CJIB)
gegen
Bank BGŻ BNP Paribas S.A.,
Beteiligte:
Prokuratura Rejonowa Gdańsk-Řródmiescie w Gdańsku,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Bank BGŻ BNP Paribas S.A., vertreten durch M. Konieczny und M. Cymmerman, radcowie prawni,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und R. D. Gesztelyi als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. November 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und 2 Buchst. b des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005, L 76, S. 16) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines vom Centraal Justitieel Incassobureau, Ministerie van Veiligheid en Justitie (CJIB) (Zentrales Justizinkassobüro des Ministeriums für Sicherheit und Justiz [CJIP], Niederlande) eingeleiteten Verfahrens wegen der Anerkennung und Vollstreckung einer Geldbuße, die vom Adm. Verwerking Flitsgegevens CJIB HA Leeuwarden (Dienststelle für die Bearbeitung von Flashdaten des CJIP in Leeuwarden, Niederlande) gegen die in Danzig (Polen) ansässige Zweigniederlassung der Bank BGŻ BNP Paribas S.A. mit Sitz in Warschau (Polen) verhängt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss
Rz. 3
Der Erwägungsgründe 1, 2 und 4 des Rahmenbeschlusses lauten:
„(1) Der Europäische Rat unterstützte auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere [(Finnland)] den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der [Europäischen] Union werden sollte.
(2) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sollte für Geldstrafen oder Geldbußen von Gerichts- oder Verwaltungsbehörden gelten, um die Vollstreckung solcher Geldstrafen oder Geldbußen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie verhängt worden sind, zu erleichtern.
…
(4) Dieser Rahmenbeschluss soll auch die wegen Zuwiderhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften verhängten Geldstrafen und Geldbußen erfasse...