Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Folgeantrag. Voraussetzungen für die Ablehnung eines solchen Antrags als unzulässig. Wendung ,neue Umstände oder Erkenntnisse‘. Urteil des Gerichtshofs zu einer Frage der Auslegung des Unionsrechts. Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Zuständigkeit des nationalen Gerichts für die Entscheidung über einen solchen Antrag in der Sache im Fall der Rechtswidrigkeit der Entscheidung, einen Antrag als unzulässig abzulehnen. Verfahrensgarantien
Normenkette
Richtlinie 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Buchst. d, Art. 40 Abs. 2-3, Art. 46, 46 Art. 14 Abs. 2
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland (Recevabilité d’une demande ultérieure) |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1.Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes
sind dahin auszulegen, dass
jedes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union, und zwar auch ein Urteil, das sich auf die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts beschränkt, die bei Erlass einer Entscheidung über einen früheren Antrag bereits in Kraft war, unabhängig von seinem Verkündungsdatum einen neuen Umstand bzw. ein neues Element im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, wenn es erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.
2.Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32
ist dahin auszulegen, dass
er es erlaubt, nicht aber verlangt, dass die Mitgliedstaaten ihre Gerichte ermächtigen, dann, wenn sie eine Entscheidung für nichtig erklären, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird, selbst über diesen Antrag zu entscheiden – unter der Voraussetzung, dass sie die in Kapitel II dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien achten –, ohne seine Prüfung an die Asylbehörde zurückverweisen zu müssen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-216/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Sigmaringen (Deutschland) mit Beschluss vom 22. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 23. März 2022, in dem Verfahren
A. A.
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, der Richter M. Ilešič, J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi, der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin und N. Wahl sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Februar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und A. Hoesch als Bevollmächtigte,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und V.-S. Strasser als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und H. Leupold als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d, Art. 40 Abs. 2 und 3 und Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A. A., einem Drittstaatsangehörigen, und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt), über die Ablehnung seines Folgeantrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 18 und 36 der Richtlinie 2013/32 heißt es:
„(18) Es liegt im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird.
…
(36) Stellt der Antragsteller einen Folgeantrag, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen, so wäre es unverhältnismäßig, die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können.“
Rz. 4
Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeic...