Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit. Rechte der Arbeitnehmer. Gleichbehandlung. Soziale Vergünstigungen. Finanzielle Studienbeihilfe. Abstammungsvoraussetzung. Begriff ‚Kind’. Kind des Ehepartners oder eingetragenen Lebenspartners. Beitrag zum Unterhalt dieses Kindes
Beteiligte
Ministre de l'Enseignement supérieur et de la Recherche |
Tenor
Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union sind dahin auszulegen, dass unter dem Kind eines erwerbstätigen Grenzgängers, dem mittelbar die in der letztgenannten Bestimmung genannten sozialen Vergünstigungen wie die Studienfinanzierung, die von einem Mitgliedstaat Kindern von Erwerbstätigen gewährt wird, die ihre Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausüben oder ausgeübt haben, zugutekommen können, nicht nur ein Kind zu verstehen ist, das mit diesem Erwerbstätigen in einem Abstammungsverhältnis steht, sondern auch das Kind des Ehepartners oder eingetragenen Lebenspartners dieses Erwerbstätigen, wenn dieser zum Unterhalt des Kindes beiträgt. Die letztgenannte Anforderung entspringt einer tatsächlichen Situation, die die nationalen Behörden und gegebenenfalls Gerichte zu beurteilen haben, ohne hierfür ermitteln zu müssen, aus welchen Gründen dieser Beitrag geleistet wird oder auf welche genaue Höhe er zu beziffern ist.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend drei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidungen vom 22. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2015, in den Verfahren
Noémie Depesme (C-401/15),
Saïd Kerrou (C-401/15),
Adrien Kauffmann (C-402/15),
Maxime Lefort (C-403/15)
gegen
Ministre de l'Enseignement supérieur et de la recherche
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin A. Prechal, des Richters A. Rosas (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Depesme und Herrn Kerrou, vertreten durch P. Peuvrel, avocat,
- von Herrn Kauffmann, vertreten durch S. Jacquet, avocat,
- von Herrn Lefort, vertreten durch S. Coï, avocat,
- der luxemburgischen Regierung, vertreten durch D. Holderer als Bevollmächtigte im Beistand von P. Kinsch, avocat,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten zwischen Frau Noémie Depesme und Herrn Saïd Kerrou, Herrn Adrien Kauffmann sowie Herrn Maxime Lefort auf der einen Seite und dem Ministre de l'Enseignement supérieur et de la Recherche (Minister für Hochschulbildung und Forschung, Luxemburg, im Folgenden: Minister) auf der anderen Seite wegen dessen Ablehnung, Frau Depesme, Herrn Kauffmann und Herrn Lefort für das Studienjahr 2013/2014 staatliche finanzielle Studienbeihilfen zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968, L 257, S. 2) hieß es:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.
…”
Rz. 4
Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 sah vor:
„(1) Bei dem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit Wohnung nehmen:
a) sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird;
…”
Rz. 5
Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 wurde durch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten...