Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union. Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB). Vorrechte und Befreiungen der EZB. Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB. Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens. Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
Normenkette
AEUV Art. 343, 39; EUV Art. 4 Abs. 3; Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union Art. 2, 18, 22
Beteiligte
Tenor
1. Die Republik Slowenien hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen, dass sie in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, durchgeführt und im Zeitraum nach dieser Beschlagnahme nicht loyal mit der Europäischen Zentralbank zusammengearbeitet hat.
2. Die Republik Slowenien trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Die Europäische Zentralbank trägt ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 16. April 2019,
Europäische Kommission, vertreten durch L. Flynn und B. Rous Demiri als Bevollmächtigte,
Klägerin,
unterstützt durch
Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch K. Kaiser, C. Zilioli, F. Malfrère und A. Šega als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramírez-Escudero, abogado,
Streithelferin,
gegen
Republik Slowenien, vertreten durch V. Klemenc, A. Grum, N. Pintar Gosenca und K. Rejec Longar als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, N. Piçarra und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby und P. G. Xuereb (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters I. Jarukaitis,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2020,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. September 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass die Republik Slowenien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (ABl. 2016, C 202, S. 230, im Folgenden: Protokoll über das ESZB und die EZB), den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2016, C 202, S. 266, im Folgenden: Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen) und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass sie einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und des Eurosystems zusammenhängen, in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) durchgeführt und mit der Europäischen Zentralbank (EZB) diesbezüglich nicht loyal zusammengearbeitet hat.
Rechtlicher Rahmen
Protokoll über das ESZB und die EZB
Rz. 2
Art. 1 des Protokolls über das ESZB und die EZB lautet wie folgt:
„Die [EZB] und die nationalen Zentralbanken bilden nach Artikel 282 Absatz 1 [AEUV] das [ESZB]. Die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, bilden das Eurosystem.
Das ESZB und die EZB nehmen ihre Aufgaben und ihre Tätigkeit nach Maßgabe der Verträge und dieser Satzung wahr.”
Rz. 3
Art. 8 dieses Protokolls bestimmt:
„Das ESZB wird von den Beschlussorganen der EZB geleitet.”
Rz. 4
Art. 9.2 des Protokolls lautet:
„Die EZB stellt sicher, dass die dem ESZB nach Artikel 127 Absätze 2, 3 und 5 [AEUV] übertragenen Aufgaben entweder durch ihre eigene Tätigkeit nach Maßgabe dieser Satzung oder durch die nationalen Zentralbanken nach den Artikeln 12.1 und 14 erfüllt werden.”
Rz. 5
In Art. 9.3 des Protokolls heißt es:
„Die Beschlussorgane der EZB sind nach Artikel 129 Absatz 1 [AEUV] der EZB-Rat und das Direktorium.”
Rz. 6
Art. 10.1 des Protokolls über das ESZB und die EZB sieht vor:
„Nach Artikel 283 Absatz 1 [AEUV] besteht der EZB-Rat aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der E...