Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union. Mitglied eines Organs der Europäischen Zentralbank. Präsident einer nationalen Zentralbank eines Mitgliedstaats. Befreiung von der Strafgerichtsbarkeit. Anklage im Zusammenhang mit im Rahmen des Amtes innerhalb des Mitgliedstaats ausgeübten Tätigkeiten
Beteiligte
Tenor
1. Art. 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist im Licht von Art. 130 AEUV und Art. 7 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank dahin auszulegen, dass der Präsident einer Zentralbank eines Mitgliedstaats die in Art. 11 Buchst. a des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union vorgesehene Befreiung von der Gerichtsbarkeit für die von ihm in amtlicher Eigenschaft als Mitglied eines Organs der Europäischen Zentralbank vorgenommenen Handlungen in Anspruch nehmen kann.
2. Art. 11 Buchst. a in Verbindung mit Art. 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass dem Präsidenten einer Zentralbank eines Mitgliedstaats die in Art. 11 Buchst. a dieses Protokolls vorgesehene Befreiung von der Gerichtsbarkeit für die von ihm in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen auch nach Beendigung seiner Amtstätigkeit zusteht.
3. Art. 11 Buchst. a in Verbindung mit den Art. 17 und 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die für das Strafverfahren zuständige nationale Behörde – d. h., je nach Stadium des Verfahrens, die mit der Strafverfolgung betraute Behörde oder das zuständige Strafgericht – zuständig ist, zunächst zu beurteilen, ob eine etwaige Zuwiderhandlung, die vom Präsidenten einer nationalen Zentralbank in seiner Eigenschaft als Mitglied eines Organs der Europäischen Zentralbank begangen wurde, eine Handlung dieses Zentralbankpräsidenten darstellt, die dieser in Ausübung seiner Aufgaben innerhalb dieses Organs begangen hat, aber verpflichtet ist, im Zweifelsfall gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Stellungnahme der Europäischen Zentralbank einzuholen und dieser Stellungnahme nachzukommen. Dagegen ist es allein Sache der Europäischen Zentralbank, wenn sie mit einem Ersuchen um Aufhebung der Immunität dieses Zentralbankpräsidenten befasst ist, zu beurteilen, ob eine solche Aufhebung der Immunität den Interessen der Europäischen Union zuwiderläuft, vorbehaltlich einer etwaigen Kontrolle dieser Beurteilung durch den Gerichtshof.
4. Art. 11 Buchst. a des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Befreiung von der Gerichtsbarkeit nicht der Strafverfolgung insgesamt, namentlich nicht den Ermittlungsmaßnahmen, der Erhebung von Beweisen und der Zustellung der Anklageschrift, entgegensteht. Wird jedoch bereits im Stadium der Ermittlungen der nationalen Behörden und vor Anrufung eines Gerichts festgestellt, dass die Person, gegen die ermittelt wird, die Befreiung von der Gerichtsbarkeit für die Handlungen in Anspruch nehmen kann, die Gegenstand der strafrechtlichen Verfolgung sind, ist es Sache dieser Behörden, beim betreffenden Organ der Europäischen Union um Aufhebung der Befreiung zu ersuchen. Diese Befreiung steht der Verwendung der während der Ermittlungen erhobenen Beweise in anderen gerichtlichen Verfahren nicht entgegen.
5. Art. 11 Buchst. a und Art. 17 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass die Befreiung von der Gerichtsbarkeit nicht zur Anwendung kommt, wenn die Person, der diese Befreiung zusteht, in einem Strafverfahren Handlungen beschuldigt wird, die nicht im Rahmen der Aufgaben vorgenommen wurden, die sie für ein Organ der Europäischen Union wahrnimmt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rīgas rajona tiesa (Bezirksgericht Riga, Lettland) mit Entscheidung vom 20. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Januar 2020, in dem Strafverfahren gegen
AB,
CE,
”MM investīcijas” SIA,
Beteiligte:
LR Ģenerālprokuratūras Krimināltiesiskā departamenta Sevišķi svarīgu lietu izmeklēšanas nodaļa,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele sowie der Richter M. Ilešič, J.-C. Bonichot (Berichterstatter), P. G. Xuereb und N. Wahl,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von AB, vertreten durch M. Kvēps und A. Rep...