Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Werte der Europäischen Union. Rechtsstaatlichkeit. Beitritt zur Union. Nichtabsenkung des Schutzniveaus für die Werte der Union. Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz. Anwendungsbereich. Unabhängigkeit der Richter eines Mitgliedstaats. Ernennungsverfahren. Befugnisse des Premierministers. Mitwirkung eines Ausschusses für Ernennungen im Justizwesen
Normenkette
EUV Art. 2, 19, 49; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Tenor
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er in einer Rechtssache Anwendung finden kann, in der ein nationales Gericht mit einer im nationalen Recht vorgesehenen Klage befasst ist, die darauf gerichtet ist, dass dieses Gericht darüber entscheidet, ob bestimmte nationale Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung der Richter des Mitgliedstaats, dem dieses Gericht angehört, mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Bei der Auslegung dieser Bestimmung ist Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gebührend zu berücksichtigen.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen, die dem Premierminister des betreffenden Mitgliedstaats eine entscheidende Befugnis im Richterernennungsverfahren einräumen, aber auch vorsehen, dass in diesem Verfahren ein unabhängiges Gremium tätig wird, das namentlich damit betraut ist, die Richteramtskandidaten zu beurteilen und dem Premierminister eine Stellungnahme zu übermitteln, nicht entgegensteht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Prim'Awla tal-Qorti Ċivili – Ġurisdizzjoni Kostituzzjonali (Erste Kammer des Zivilgerichts als Verfassungsgericht, Malta) mit Entscheidung vom 25. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2019, in dem Verfahren
Repubblika
gegen
Il-Prim Ministru,
Beteiligter:
WY,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, M. Ilešič und N. Piçarra, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Repubblika, vertreten durch J. Azzopardi, avukat, S. Busuttil, advocate, und T. Comodini Cachia, avukat,
- der maltesischen Regierung, vertreten durch V. Buttigieg und A. Buhagiar als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramirez-Escudero und V. Ferreres Comella, abogados,
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev, H. Eklinder, R. Shahsavan Eriksson, A. M. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, O. Simonsson und J. Lundberg als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch K. Mifsud-Bonnici, P. J. O. Van Nuffel, H. Krämer und J. Aquilina, dann durch K. Mifsud-Bonnici, P. J. O. Van Nuffel und J. Aquilina als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Dezember 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Repubblika, einem in Malta als juristische Person eingetragenen Verein, dessen Ziel es ist, den Schutz von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesem Mitgliedstaat zu fördern, und Il-Prim Ministru (Premierminister, Malta) bezüglich einer Popularklage, mit der insbesondere in Frage gestellt wird, ob die Bestimmungen der maltesischen Verfassung (im Folgenden: Verfassung) über das Richterernennungsverfahren mit dem Unionsrecht vereinbar sind.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Die Verfassung enthält in Kapitel VIII Vorschriften über das Richteramt, darunter solche über das Richterernennungsverfahren.
Rz. 4
In diesem Kapitel VIII sieht Art. 96 der Verfassung vor:
„(1) Die Imħallfin (Richter an den Obergerichten) werden vom Präsidenten der Republik entsprechend dem Rat des Premierministers ernannt.
(2) Zur Ernennung als Richter an den Obergerichten ist nur qualifiziert, wer über einen Zeitraum von mindestens zwölf Jahren oder über mehrere Zeiträume von insgesamt mindestens zwölf Jahren in Malta eine Tätigkeit als Rechtsanwalt oder das Amt eines Maġistrat (Richter an den Untergerichten)...