Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattung zu Unrecht erhobener Mehrwertsteuer, Grundsatz der Effektivität, Grundsatz der Äquivalenz, Verjährung eines Anspruchs auf Mehrwertsteuerrückerstattung
Leitsatz (amtlich)
Die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der es möglich ist, einen Antrag auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung zurückzuweisen, wenn dieser Antrag vom Steuerpflichtigen nach Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist eingereicht wurde, auch wenn sich aus einem nach Ablauf dieser Frist verkündeten Urteil des Gerichtshofs ergibt, dass die Entrichtung der den Gegenstand dieses Antrags auf Erstattung bildenden Mehrwertsteuer nicht geschuldet war.
Normenkette
EUV Art. 4 Abs. 3; EGRL 112/2006
Beteiligte
Caterpillar Financial Services |
Caterpillar Financial Services sp. z o.o |
Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie |
Verfahrensgang
Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) (Beschluss vom 19.05.2016; ABl. EU 2017, Nr. C 22/3) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 135 Abs. 1 Buchst. a ‐ Befreiungen ‐ Unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern ‐ Hindernisse für die Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung ‐ Art. 4 Abs. 3 EUV ‐ Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der loyalen Zusammenarbeit ‐ Dem Einzelnen verliehene Rechte ‐ Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld ‐ Wirkungen eines Urteils des Gerichtshofs ‐ Grundsatz der Rechtssicherheit“
In der Rechtssache C-500/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof, Polen) mit Entscheidung vom 19. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 16. September 2016, in dem Verfahren
Caterpillar Financial Services sp. z o.o.,
Beteiligter:
Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: K. Malacek,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Oktober 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Caterpillar Financial Services sp. z o.o., vertreten durch M. Szafarowska, radca prawny, und M. Sobońska, adwokat,
‐ der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, M. Owsiany-Hornung und R. Lyal als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caterpillar Financial Services sp. z o.o. (im Folgenden: Caterpillar) und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie (Direktor der Finanzkammer Warschau, Polen) (im Folgenden: Direktor der Finanzkammer Warschau) wegen seiner Ablehnung des Antrags von Caterpillar auf Erstattung einer sich aus einer nicht unionsrechtskonformen Steuerveranlagung ergebenden Mehrwertsteuerüberzahlung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), der in Titel IX („Steuerbefreiungen“) Kapitel 3 („Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten“) steht, sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
a) Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden“.
Polnisches Recht
Rz. 4
Die Ustawa ordynacja podatkowa (Gesetz über die Abgabenordnung) vom 29. August 1997 (Dz. U. 1997, Nr. 137, Position 926, im Folgenden: Abgabenordnung) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung sieht in Art. 70 vor:
„§ 1. Steuerschulden verjähren nach Ablauf von 5 Jahren, gerechnet ab Ende des Kalenderjahres, in dem die Frist für die Zahlung der Steuer abgelaufen ist.
…
§ 6. Die Frist für die Verjährung der Steuerschuld beginnt nicht zu laufen und wird, wenn sie bereits zu laufen begonnen hat, ausgesetzt:
…
2) im Zeitpunkt der Erhebung einer Klage vor einem Verwaltungsgericht gegen eine Entscheidung über eine Steuerschuld;
…“
Rz. 5
In Art. 72 § 1 der Abgabenordnung heißt es:
„Als Überzahlung gilt ein Betrag:
1) Einer überzahlten oder zu Unrecht gezahlten Steuer;
…“
Rz. 6
Art. 74 Nr. 1 der Abgabenordnung lautet:
„Kommt es infolge einer Entscheidung des Trybunał Konstytucyjny [(V...