Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Luftverkehr. Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten im Fall der Annullierung eines Fluges. Erstattung in Form von Reisegutscheinen. Begriff ‚mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts‘. Erstattungsverfahren über ein auf der Website des ausführenden Luftfahrtunternehmens verfügbares Formular
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 Art. 7 Abs. 3, Art. 8 Abs. 1 Buchst. a
Beteiligte
Tenor
Art. 7 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und im Licht ihres 20. Erwägungsgrundes
dahin auszulegen, dass
im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Erstattungsmodalität unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, sofern er in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags nach Aufklärung zuzustimmen; dies setzt voraus, dass das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Erstattungsmodalitäten gegeben hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-76/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 2023, in dem Verfahren
Cobult UG
gegen
TAP Air Portugal SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der französischen Regierung, vertreten durch J.-L. Carré, B. Herbaut und B. Travard als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, G. von Rintelen, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 3 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Cobult UG als Zessionarin der Rechte eines Fluggasts und der TAP Air Portugal SA, einem Luftfahrtunternehmen, über die Erstattung der Flugscheinkosten dieses Fluggasts, dessen Flug annulliert wurde.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1, 2, 4 und 20 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:
„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.
…
(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.
…
(20) Die Fluggäste sollten umfassend über ihre Rechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen informiert werden, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.“
Rz. 4
Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und c dieser Verordnung sieht vor:
„Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen
a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,
…
c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …“
Rz. 5
Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) die...