Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Ausstellung eines Personalausweises. Voraussetzung des Wohnsitzes in dem Mitgliedstaat, der das Dokument ausstellt. Weigerung der Behörden dieses Mitgliedstaats, einem seiner Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, einen Personalausweis auszustellen. Gleichbehandlung. Beschränkungen. Rechtfertigung
Normenkette
AEUV Art. 21 Abs. 1; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 45; Richtlinie 2004/38/EG Art. 4
Beteiligte
Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date |
Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne |
Tenor
Art. 21 AEUV und Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG
sind dahin auszulegen, dass
sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, die Ausstellung eines innerhalb der Union als Reisedokument geltenden Personalausweises allein deshalb verweigert wird, weil er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats begründet hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-491/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) mit Entscheidung vom 11. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 10. August 2021, in dem Verfahren
WA
gegen
Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Februar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von WA, vertreten durch C. L. Popescu, Avocat,
- – der rumänischen Regierung, vertreten durch L.-E. Baţagoi, E. Gane und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Biolan und E. Montaguti als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. April 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 26 Abs. 2 AEUV, von Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 4 bis 6 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WA, einem rumänischen Staatsangehörigen, der seine Berufstätigkeit sowohl in Frankreich als auch in Rumänien ausübt, und der Direcţia pentru Evidenţa Persoanelor şi Administrarea Bazelor de Date din Ministerul Afacerilor Interne (Direktion für das Personenregister und die Datenbankverwaltung des Innenministeriums, Rumänien) (im Folgenden: Registerdirektion) wegen der Weigerung dieser Direktion, WA einen Personalausweis auszustellen, weil er seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als Rumänien hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Richtlinie 2004/38 heißt es:
„(1) Die [Bürgerschaft der Europäischen Union] verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts dar, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem diese Freiheit gemäß den Bestimmungen des Vertrags gewährleistet ist.
(3) Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der S...