Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Soziale Sicherheit. Soziale Fürsorge. Leistungen bei Krankheit. Behinderten-Dienstleistungen. Pflicht einer Gemeinde eines Mitgliedstaats, einem ihrer Bewohner eine von den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene persönliche Assistenz während eines Hochschulstudiums bereitzustellen, das dieser in einem anderen Mitgliedstaat absolviert
Normenkette
AEUV Art. 21, 20
Beteiligte
A (Aide pour une personne handicapée) |
Tenor
1. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz, die u. a. darin besteht, die durch die täglichen Verrichtungen einer schwerbehinderten Person verursachten Kosten zu übernehmen, um dieser wirtschaftlich inaktiven Person ein Studium zu ermöglichen, nicht unter den Begriff „Leistung bei Krankheit” im Sinne dieser Bestimmung fällt und daher vom Geltungsbereich dieser Verordnung ausgeschlossen ist.
2. Die Art. 20 und 21 AEUV verwehren es der Wohnsitzgemeinde eines schwerbehinderten Einwohners eines Mitgliedstaats, eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz mit der Begründung zu verweigern, dass er sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, um dort zu studieren.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 2016, in dem Verfahren auf Betreiben von
A,
Beteiligte:
Espoon kaupungin sosiaali- ja terveyslautakunnan yksilöasioiden jaosto,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vlácil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, L. Zettergren und L. Swedenborg als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und I. Koskinen als Bevollmächtigte
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 31. Januar 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV sowie von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 43) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von A eingeleiteten Verfahrens über die Bereitstellung einer persönlichen Assistenz durch die Espoon kaupungin sosiaali- ja terveyslautakunnan yksilöasioiden jaosto (Abteilung für Einzelfälle des Sozial- und Gesundheitsausschusses der Stadt Espoo, Finnland, im Folgenden: Gemeinde Espoo) in Tallinn in Estland, wo A ein dreijähriges Jurastudium in Vollzeit absolviert.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Das am 13. Dezember 2006 in New York geschlossene Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (United Nations Treaty Series, Band 2515, S. 3, im Folgenden: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) trat am 3. Mai 2008 in Kraft. Dieses Übereinkommen wurde im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) genehmigt.
Rz. 4
Art. 19 „Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft”) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bestimmt:
„Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens … treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass
…
b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstüt...