Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Luftverkehr. Ausgleichsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung. Fluggast, der im Voraus über die Nichtbeförderung unterrichtet wurde. Keine Verpflichtung des Fluggasts, sich am Flugsteig einzufinden. Ausnahmen vom Ausgleichsanspruch bei Annullierung eines Fluges. Unanwendbarkeit dieser Ausnahmen bei vorweggenommener Beförderungsverweigerung
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 Art. 2 Buchst. j, Art. 3, 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c
Beteiligte
Tenor
1.Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs-und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004
ist dahin auszulegen, dass
ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, dem Fluggast eine Ausgleichszahlung leisten muss, selbst wenn er sich nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat.
2.Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004
ist dahin auszulegen, dass
diese Bestimmung, die eine Ausnahme vom Ausgleichsanspruch der Fluggäste im Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, nicht den Fall regelt, dass ein Fluggast mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet wurde, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn gegen seinen Willen nicht befördern werde, so dass ihm ein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung zusteht.
Tatbestand
In der Rechtssache C-238/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 2022, in dem Verfahren
FW
gegen
LATAM Airlines Group SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter M. Safjan und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von FW, vertreten durch Rechtsanwalt H. Hopperdietzel,
- – der LATAM Airlines Group SA, vertreten durch Rechtsanwalt S. Wassmer,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. j, Art. 3 Abs. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i und Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FW und der LATAM Airlines Group SA (im Folgenden: Latam Airlines) wegen einer auf die Verordnung Nr. 261/2004 gestützten Klage von FW auf Ausgleichszahlung, nachdem Latam Airlines ihre Buchung für einen Flug zwischen Madrid (Spanien) und Frankfurt am Main (Deutschland) gesperrt hatte.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1 bis 4 und 9 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:
„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.
(3) Durch die Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr [(ABl. 1991, L 36, S. 5)] wurde zwar ein grundlegender Schutz für die Fluggäste geschaffen, die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste ist aber immer noch zu hoch; dasselbe gilt für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen.
(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die...