Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Luftverkehr. Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste. Aufgaben der mit der Durchsetzung der genannten Verordnung betrauten nationalen Stelle. Nationale Regelung, die dieser Stelle die Befugnis verleiht, ein Luftfahrtunternehmen anzuweisen, die einem Fluggast geschuldete Ausgleichsleistung zu zahlen. Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 Art. 16; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Polskie Linie Lotnicze „LOT” S.A |
Budapest Főváros Kormányhivatala |
Tenor
Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91
ist dahin auszulegen, dass
die Mitgliedstaaten die für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle dazu ermächtigen können, ein Luftfahrtunternehmen zu verpflichten, die den Fluggästen nach der Verordnung geschuldeten Ausgleichszahlungen im Sinne von Art. 7 der Verordnung zu leisten, wenn ein Fluggast bei dieser nationalen Stelle eine individuelle Beschwerde erhoben hat, sofern diesem Fluggast und dem genannten Luftfahrtunternehmen die Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs offensteht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 27. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 12. November 2020, in dem Verfahren
Polskie Linie Lotnicze „LOT” S.A.
gegen
Budapest Főváros Kormányhivatala
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan, N. Piçarra und M. Gavalec,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Februar 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Polskie Linie Lotnicze „LOT” S.A., vertreten durch S. Berecz und A. Csehó, Ügyvédek,
- der Budapest Főváros Kormányhivatala, vertreten durch G. Cziráky und G. Tóth als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Fehér als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Hoogveld als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Lachowicz als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Bottka, L. Havas und K. Simonsson als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. April 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Luftfahrtunternehmen Polskie Linie Lotnicze „LOT” S.A. (im Folgenden: LOT) und der Budapest Főváros Kormányhivatala (Verbraucherschutzinspektion der Regierungsverwaltung für die Hauptstadt Budapest, Ungarn) (im Folgenden: Verbraucherschutzinspektion) über die Entscheidung, mit der die Verbraucherschutzinspektion gegenüber LOT anordnete, die in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsleistungen zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1, 2, 4, 21 und 22 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:
„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.
…
(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.
…
(21) Die Mitgliedstaaten sollten Regeln für Sanktionen bei Verstößen gegen diese Verordnung festlegen und deren Durchsetzung gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
(22) Die Mitgliedstaaten sollten die generelle Einhaltung dieser Verordnung durch ihre Luftfahrtunternehmen sicherstellen und überwachen und eine geeignete Stelle zur Erfüllung dieser Dur...