Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Recht auf ein unparteiisches Gericht. Recht auf die Unschuldsvermutung. Darstellung des Sachverhalts in einem Vorabentscheidungsersuchen in Strafsachen. Feststellung eines bestimmten Sachverhalts, um dem Gerichtshof ein zulässiges Vorabentscheidungsersuchen vorlegen zu können. Einhaltung der im nationalen Recht für Urteile in der Sache vorgesehenen Verfahrensgarantien
Normenkette
AEUV Art. 267; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47 Abs. 2, Art. 48 Abs. 1
Beteiligte
IP u.a. (Établissement de la matérialité des faits au principal - II) |
Spetsializirana prokuratura |
Tenor
Art. 267 AEUV ist im Licht von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen,
dass er ein nationales Strafgericht nicht daran hindert, vor einem Urteil in der Sache unter Einhaltung der im nationalen Recht vorgesehenen Verfahrensgarantien einen bestimmten Sachverhalt festzustellen, um dem Gerichtshof ein zulässiges Vorabentscheidungsersuchen vorlegen zu können.
Tatbestand
In der Rechtssache C-269/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 21. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 21. April 2022, in dem Verfahren
IP,
DD,
ZI,
SS,
HYA,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Piçarra und N. Jääskinen,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von IP, vertreten durch H. Georgiev, Advokat,
- – der griechischen Regierung, vertreten durch K. Boskovits, A. Magrippi und E. Tsaousi als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Ronkes Agerbeek, M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 AEUV sowie von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen IP, DD, ZI, SS und HYA wegen deren Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.
Rechtlicher Rahmen
Bulgarisches Recht
Rz. 3
Der Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor, dass ein Strafurteil in der Sache unter Einhaltung mehrerer Verfahrensgarantien zu erlassen ist. Insbesondere ist nach den Art. 247 bis 253 der Strafprozessordnung vom Staatsanwalt eine ordnungsgemäße Anklage zu erheben, während gemäß den Art. 271 bis 310 der Strafprozessordnung alle Beweise unter Beteiligung der Verteidigung zu erheben sind, die Beteiligten anzuhören sind, wobei dem Angeklagten das letzte Wort zu erteilen ist, und das Urteil nach geheimer Beratung zu erlassen ist.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Rz. 4
Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) erhob am 19. Juni 2020 gegen IP, DD, ZI, SS und HYA Anklage wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, die auf Bereicherung durch rechtswidrige Einschleusung von Drittstaatsangehörigen nach Bulgarien und rechtswidrige Beihilfe zur Einreise in das bulgarische Hoheitsgebiet sowie Annahme oder Zahlung von Bestechungsgeldern in diesem Zusammenhang gerichtet ist. Unter den Angeklagten sind drei Bedienstete der Grenzpolizei am Flughafen Sofia (Bulgarien).
Rz. 5
Nach Angaben der Spezialisierten Staatsanwaltschaft hatten sich die betreffenden Drittstaatsangehörigen mit Studentenvisa in Zypern aufgehalten und reisten mit dem Flugzeug aus Zypern nach Bulgarien. Die drei Bediensteten der Grenzpolizei hätten die Kontrollen bei der Anreise der Drittstaatsangehörigen am Flughafen Sofia durchgeführt und diese unter Verletzung ihrer Dienstpflichten, insbesondere ihrer Pflichten aus der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1), ins Land einreisen lassen.
Rz. 6
Das vorlegende Gericht führt aus, es habe noch nicht festgestellt, ob die Angaben der Spezialisierten Staatsanwaltschaft durch die Akten gestützt werden. Auch wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehe, dass diese Vorwürfe begründet seien, müsse es nach Beweiserhebung die Beteiligten anhören und den Sachverhalt feststellen, um bestimmen zu können, ob, wie von der Spezialisierten Staatsanwaltschaft behauptet, möglicherweise gegen die Verordnung 2016/399 verstoßen worden sei. Sollte es nach dieser Prüfung zu dem Ergebnis kommen, dass diese Verordnung anwendbar sei, könnte es den Gericht...