Leitsatz
1. Für den Antrag auf Nichtberücksichtigung einer gesetzlich unterhaltsberechtigten Person muss der Gläubiger deren konkretes Einkommen nicht beziffern.
2. Bei Auszubildenden kann als Mindesteinkommen auf den Mindestlohn nach § 17 BBiG abgestellt werden.
AG Bremen, Beschl. v. 15.8.2023 – 247 M 470940/22
1 Der Fall
Berufstätige Tochter soll bei Lohnpfändung unberücksichtigt bleiben
Mit Antrag vom 3.1.2023 beantragte der Gläubiger, dass die Unterhaltsberechtigte bei der Berechnung des unpfändbaren Einkommens der Schuldnerin unberücksichtigt bleiben sollte. Der Antrag wurde damit begründet, dass die 24-jährige Tochter der Schuldnerin mittlerweile berufstätig sei und einer Beschäftigung als Teamassistentin nachgeht. Zum Nachweis wurde ein Ausdruck aus dem Internet vorgelegt, auf dem die Tochter der Schuldnerin namentlich als Teamassistenz genannt wird.
Keine Angaben zur Höhe der Vergütung
Die genaue Höhe des dort erzielten Einkommens konnte der Gläubiger nicht benennen. In ihrer Stellungnahme zu diesem Antrag erklärte die Schuldnerin, dass ihre Tochter lediglich als Auszubildende beschäftigt ist. Sie machte weder Angaben zu der Höhe der Ausbildungsvergütung noch dazu, um welchen Beruf es sich handelt oder in welchem Ausbildungsjahr sich ihre Tochter befindet.
Auch dem Gläubiger gegenüber gab die Schuldnerin trotz mehrfacher Aufforderung diesbezüglich keine Erklärungen ab. Von der Möglichkeit, diese Auskünfte im Rahmen einer eidesstattlichen Vermögensauskunft zu ermitteln, wurde durch den Gläubiger kein Gebrauch gemacht.
Der Gläubiger beantragt nunmehr auch ohne diese Angaben eine Entscheidung über seinen Antrag. Es war daher nach billigem Ermessen zu entscheiden.
2 II. Die Entscheidung
AG meint, nach billigem Ermessen zu entscheiden
Als Richtschnur für die Nichtberücksichtigung eines Angehörigen bei der Bestimmung des pfändbaren Betrags bietet es sich an, auf den Grundfreibetrag des § 850c Abs. 1 ZPO von derzeit 1.402,28 EUR abzustellen. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die Unterhaltsberechtigte als Auszubildende Einkünfte in dieser Höhe erzielt.
Nach Auskunft der Schuldnerin unterhält sie ihre Tochter weiterhin allein, was darauf schließen lässt, dass sie weiterhin mit ihrer Tochter in einem gemeinsamen Haushalt lebt. In diesem Fall ist es nicht gerechtfertigt, die Entscheidung über den Antrag in Anlehnung an den Freibetrag nach § 850c Abs. 1 ZPO zu treffen. In derartigen Fällen soll die Berechnung des Freibetrags des Unterhaltsberechtigten vielmehr an den sozialrechtlichen Regelungen zur Existenzsicherung ausgerichtet werden, wobei regelmäßig ein sog. Besserungszuschlag in einer Größenordnung von 30–50 % zu gewähren ist (BGH NJW 2005, 3282; NZI 2020, 896).
600 EUR als Schwelle für die vollständige Nichtberücksichtigung
Ausgehend von einem derzeit nach § 28 SGB XII bzw. SGB II geltenden Eckregelsatz i.H.v. 451 EUR (Stand: 1.1.2023) für bedürftige Erwachsene in einer Bedarfsgemeinschaft bedeutet dies, dass ein Unterhaltsberechtigter, der mit dem Schuldner in einem Haushalt lebt, dann bei der Berechnung des pfändbaren Schuldnereinkommens gänzlich außer Betracht bleibt, wenn er über ein Einkommen von circa 600 EUR verfügt.
AG sieht den Mindestlohn für Auszubildende
Der Mindestlohn für Auszubildende beträgt 2023 im ersten Ausbildungsjahr 620 EUR brutto und erhöht sich im zweiten Ausbildungsjahr auf 732,00 EUR. Unabhängig davon, in welchem Ausbildungsjahr sich die Tochter der Schuldnerin befindet, kann davon ausgegangen werden, dass ihre Einkünfte dem vom BGH empfohlenen Betrag mindestens entsprechen.
Dem Antrag des Gläubigers war daher stattzugeben.
3 Der Praxistipp
Knappe Begründung mit richtigem Ergebnis
Die Frage, ab welchem eigenen Einkommen die gegenüber dem Schuldner gesetzlich unterhaltsberechtigte Person nicht mehr zu berücksichtigen ist, ist gesetzlich nicht geregelt und in Rechtsprechung und Literatur von Erwägungen des Einzelfalles geprägt und völlig uneinheitlich.
Die Berechnungsformel des AG angewandt (130 % des Regelsatzes) ergäbe sich aktuell ein notwendiges eigenes Einkommen von 130 % von 563 EUR = 731,90 EUR, um vollständig nicht berücksichtigt zu werden. Im Sinne der Vereinfachung des Vollstreckungsverfahrens kann derart pauschaliert werden, auch wenn der Ansatz von 30 % sehr hoch erscheint. Der Rechtsprechung, die lediglich 15 bis 20 % über dem Regelsatz als angemessen erachtet, müsste der Vorzug gegeben werden.
Gläubiger muss konkretes Einkommen nicht angeben
Sehr gut sieht das AG, dass es nicht erforderlich ist, dass der Gläubiger im konkreten Einzelfall das Einkommen der gesetzlich unterhaltsberechtigten Person benennt. In vielen Fällen verfügt der Gläubiger auch nicht über diese Informationen. Ihn vorab auf das – in der Praxis meist fruchtlose – Verfahren nach § 802c oder § 802d ZPO zu verweisen, dient weder dem Gläubiger noch dem Schuldner. Der Schuldner müsste die erheblichen zusätzlichen Kosten nach § 788 ZPO tragen. Für den Schuldner ist es viel günstiger, wenn er im Verfahren über den Beschluss zur Nichtberücksichtigung der unterhaltsberechtigten Per...