Leitsatz (amtlich)
1. Ob eine Baugenehmigung wegen der Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen Nachbarrechte verletzt, beurteilt sich in tatsächlicher Hinsicht nach den Abständen, die aus dem genehmigten Lageplan hervorgehen und nicht nach der konkreten Stellung des errichteten Gebäudes.
2. Setzt ein Bebauungsplan eine durch Baugrenzen allseits umschlossene Bebauungszone in geschlossener Bauweise fest, so handelt es sich dabei um eine gegenüber den allgemeinen Abstandsflächenregeln vorrangige zwingende Festsetzung im Sinne von § 6 Abs. 13 HBauO.
3. Darf wegen einer im Sinne von § 6 Abs. 13 HBauO vorrangigen Baugrenze näher als 2,50 m an die Nachbargrenze herangebaut werden, bedarf die Zulassung einer Überschreitung der Baugrenze nach § 68 Abs. 3 Nr. 1 HBauO der nachbarlichen Zustimmung.
4. Zur – im entschiedenen Fall verneinten – Eigenschaft von Vorbauten als untergeordnete Gebäudeteile im Sinne von § 6 Abs. 5 Satz 5 HBauO.
5. Das Gebot der Rücksichtnahme kann wegen der entstehenden Einblicksmöglichkeiten auf eine Nachbargrundstück verletzt sein, wenn eine Vielzahl allseits verglaster Vorbauten, die teilweise erst durch eine Befreiung für ein zusätzliches Vollgeschoß ermöglicht worden sind, gleichsam wie Aussichtskanzeln in der seitlichen Giebelwand eines Wohnhauses genehmigt werden.
Normenkette
HBauO § 6 Abs. 13, 5, § 68 Abs. 3; BauNVO § 15 Abs. 1
Verfahrensgang
VG Hamburg (Urteil vom 29.04.1998; Aktenzeichen 22 VG 4211/95) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 29. April 1998 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Hinsichtlich der Kosten des gesamten Verfahrens ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, falls nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen zu 1) erteilte Baugenehmigung für die Bebauung des Nachbargrundstücks.
Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks X-Straße 189, das mit einem genehmigten Einfamilienhaus bebaut ist. Das Grundstück ist etwa 40 m tief. Die Terrasse des Hauses liegt Richtung Südwesten.
Den Beigeladenen zu 2) und 3) gehört das nordwestlich benachbarte Grundstück X-Straße 191. Beide Grundstücke sind durch den Bebauungsplan Lurup 6 vom 28. Februar 1989 (GVBl. 43) überplant. Das Flurstück der Klägerin ist als Grünfläche (Parkanlage) mit unterirdischer Bahnanlage ausgewiesen. Für das Grundstück der Beigeladenen zu 2) und 3) findet sich die Festsetzung „WA III g” mit einer Grundflächenzahl von 0,4 und einer Geschossflächenzahl von 1,0. Die Traufhöhe ist mit 9,5 m bestimmt. Außerdem sind für das Grundstück der Beigeladenen zu 2) und 3) Baugrenzen ausgewiesen, deren Verlauf sich an der südöstlichen Grundstücksseite – zum Flurstück der Klägerin hin – an einem im Bebauungsplan zeichnerisch erfassten Altbestand orientiert. An ihrem südwestlichen Ende weist diese Baugrenze – parallel zur vorgesehenen Bahnanlage – eine Eckabschrägung auf.
In der Begründung zum Bebauungsplan Lurup 6 heißt es u.a.:
„Für die Bebauung entlang der X-Straße wird wegen des Bestandes an Läden und Kleingewerbe allgemeines Wohngebiet ausgewiesen. Mit der dreigeschossigen Bebauung in geschlossener Bauweise wird die begonnene bauliche Entwicklung unterstützt und die Abschirmung der jeweils dahinter liegenden Wohngebiete gegen Verkehrslärmeinwirkungen von der Hauptverkehrsstraße beabsichtigt …. Zur Erhaltung der durch vorhandene Gebäude vorgegebenen Kleinmaßstäblichkeit ist auf Flächen nördlich der X-Straße eine Traufhöhe … von 9,5 m festgesetzt worden. Damit soll ein Maßstabsbruch zwischen der Straßenrandbebauung und den daran anschließenden Einfamilienhausgebieten vermieden werden. Aus dem gleichen Grunde wurde nach der öffentlichen Auslegung auch südlich der X-Straße eine Traufhöhe von 9,5 m festgesetzt.
Die Festsetzung für eine maximal dreigeschossige Bebauung geschlossener Bauweise südlich der X-Straße wurde nach der öffentlichen Auslegung dadurch ergänzt, dass für diese Flächenausweisung eine Grundflächenzahl von 0,4 und eine Geschossflächenzahl von 1,0 festgelegt wurde.”
Während des Planaufstellungsverfahrens hatte die Klägerin Einwendungen gegen die sich für das Grundstück X-Straße 191 aus den Baugrenzen ergebende Bebauungstiefe vorgebracht, da sie eine Verschattung ihres Grundstücks befürchtete. In einem Antwortschreiben der Stadtplanungsabteilung beim Bezirksamt Altona der Beklagten vom 31. Oktober 1989 heißt es dazu:
„Die Bebauungsmöglichkeit (des Grundstücks X-Straße 191) wurde geändert, sie beträgt statt 13 m nunmehr 18 m mit Eckabschrägungen. Unzumutbare Verschattungen sind auf Grund des festgesetzten Maßes der baulichen Nutzung nicht zu erwarten.”
Unter dem 5. August 1993 erteilte die Beklagt...