Entscheidungsstichwort (Thema)
Beteiligung des Betriebsrats bei der Anordnung von Überstunden während eines Streiks
Leitsatz (amtlich)
1. Arbeitskampfbedingte Beschränkungen der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats greifen nicht ein, wenn es sich bei der Anordnung von Überstunden durch den Arbeitgeber um eine reine Streikfolgenkompensation handelt.
2. Die Anordnung von Überstunden ist als Kampfmaßnahme zu werten, wenn sie sich räumlich und zeitlich mit einer Streikmaßnahme deckt.
Normenkette
BetrVG § 87
Verfahrensgang
ArbG Gießen (Entscheidung vom 04.09.2015; Aktenzeichen 9 BV 19/15) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Gießen vom 04.09.2015 - 9 BV 19/15 - abgeändert.
Der Arbeitgeberin wird aufgegeben, es zu unterlassen während der Geltung der Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit in der Zustellung vom 26.10.2010 in der Fassung vom 18.07.2011 die Leistung von Arbeit unter Überschreitung der täglichen dienstplanmäßigen Arbeitszeit gegenüber Arbeitnehmern der Niederlassung A an einem Folgetag nach Beendigung eines befristeten Streiks anzuordnen oder zu dulden, wenn der Betriebsrat seine Zustimmung nicht zuvor erteilt hat,
sie nach der vorgenannten Betriebsvereinbarung als erteilt gilt (§7),
die fehlende Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt ist,
oder
ein Notfall im Sinne der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vorliegt.
Der Arbeitgeberin wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungspflicht ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 10.000,00 Euro angedroht.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten über das Bestehen eines Mitbestimmungsrechts bei der Anordnung von Überstunden anlässlich eines Warnstreiks.
Der Beteiligte zu 1) (im Folgenden: Betriebsrat) repräsentiert die bei der Beteiligten zu 2) (im Folgenden: Arbeitgeberin) in der Niederlassung A beschäftigten Arbeitnehmer/innen. Die Arbeitszeiten der Zusteller richten sich nach der "Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit in der Zustellung", insbesondere werden auf dieser Grundlage Dienstpläne erstellt. Wegen des Inhalts der Betriebsvereinbarung vom 26.10.2010 in der geänderten Form vom 18.07.2011 wird auf Blatt 30 bis 40 und 49 bis 53 der Akten Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 31.03.2015 teilte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di der Arbeitgeberin mit, dass sie in der Zeit vom 01.04.2015, 0.00 Uhr, bis 02.04.2015, 19.00 Uhr ihre Mitglieder zu Warnstreikmaßnahmen im Unternehmen der B aufrufen werde. Wegen des Inhalts des Schreibens wird auf die Kopie Blatt 201 der Akten verwiesen. Dementsprechend wurde in der Niederlassung in A am 02.04.2015 ein Warnstreik durchgeführt. Mit Schreiben vom gleichen Tag unterrichtete die Arbeitgeberin den Betriebsrat, dass zur Erledigung der durch die Streikmaßnahme am 02.04.2015 entstandenen Sendungsrückstände für den 04.04.2015 "Überzeitarbeit" "bis zur Aufarbeitung des Bezirks, maximal bis zur gesetzlich vorgeschriebenen täglichen Höchstarbeitszeit" angeordnet werde. Wegen des genauen Wortlauts des Schreibens sowie die von der Maßnahme betroffenen Arbeitnehmer wird auf Blatt 24 bis 31 der Akten verwiesen. Am 04.04.2015 arbeiteten im Bereich der Niederlassung A 36 Arbeitnehmer mehr als 55 Minuten über das dienstplanmäßige Arbeitsende hinaus. Die tarifliche Auseinandersetzung endete am 6.7.2015 durch Abschluss eines Tarifvertrages. Der Betriebsrat leitete ein Beschlussverfahren ein, in dem er der Arbeitgeberin aufgeben lassen wollte, es zu unterlassen, Mehrarbeit (Überstunden) an einem Folgetag nach Beendigung eines rechtmäßigen Streiks anzuordnen, zu vereinbaren, entgegenzunehmen oder zu dulden, solange der Betriebsrat seine Zustimmung nicht erteilt hat bzw. die fehlende Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt worden ist, es sei denn, es liegen Notfälle im Sinne der Rechtsprechung vor sowie die Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit in der Zustellung einzuhalten und Arbeitnehmer in Zeiten des Starkverkehrs in der Leitregion 35 nicht länger als 55 Minuten über das Dienstplanende hinaus arbeiten zu lassen, Arbeiten zu vereinbaren, zu dulden oder entgegenzunehmen, solange der Betriebsrat seine Zustimmung hierzu nicht erteilt hat. Wegen des Weiteren erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie der dort gestellten Anträge wird ergänzend auf den tatbestandlichen Teil des angefochtenen Beschlusses - Blatt 278 bis Blatt 281 der Akten - Bezug genommen.
Mit dem am 04.09.2015 verkündeten Beschluss hat das Arbeitsgericht die Anträge des Betriebsrats zurückgewiesen. Zur Begründung hat es - kurz zusammengefasst - Folgendes ausgeführt: Ein Unterlassungsanspruch stehe dem Betriebsrat nicht zu, da die gebotene arbeitskampfkonforme Auslegung zu einer Einschränkung der Mitbestimmungsrechte führe. Bei der Anordnung der Mehrarbeit für den 04.04.2015 handele es sich um eine Arbeitskampfmaßnahme der Arbeitgeberin, da sie darauf gerichtet gewesen sei, die aus dem Warnstreik resultierenden Verzögerungen und Rückstände bei der Zus...