Entscheidungsstichwort (Thema)

Versorgungsrecht. Bescheidrücknahme. Regelfall. Ermessensausübung. Bürgerkriegssituation. ehemaliges Jugoslawien

 

Orientierungssatz

Besteht bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB 10 für die Zukunft für die Versorgungsverwaltung deshalb die Pflicht zur Ermessensausübung, weil im ehemaligen Jugoslawien Bürgerkrieg herrscht?

 

Verfahrensgang

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 07.10.1994; Aktenzeichen S-11/V-2584/93)

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 04.02.1998; Aktenzeichen B 9 V 13/97 R)

BSG (Urteil vom 04.02.1998; Aktenzeichen B 9 V 9/97 R)

BSG (Urteil vom 04.02.1998; Aktenzeichen B 9 V 12/97 R)

BSG (Urteil vom 17.12.1997; Aktenzeichen 9 RV 8/97)

BSG (Urteil vom 05.11.1997; Aktenzeichen 9 RV 2/97)

 

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1937 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Slowenien. Erstmals am 7. Januar 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 8. Mai 1945 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial schwer verletzt worden zu sein. Infolge des Verlustes des linken Armes im Unterarm, von Daumen und Finger links sowie einer Knie- und Unterschenkelverletzung sei er zu 100 % Invalide und erhalte wegen dieses schädigenden Ereignisses von seinem Heimatland eine Rente als ziviles Kriegsopfer. Er legte den Anerkennungsbescheid und Zahlungsbelege vor. Nach weiteren Ermittlungen und versorgungsärztlicher Auswertung der medizinischen Befunde erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 1990 - abgesandt am 17. Januar 1991 - die geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. Zur Begründung führte er unter anderem aus, daß die Leistungen als sogenannte “Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt würden.

Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als Zivilkriegsopfer von seinem Heimatstaat und eine weitere Versorgung nach dem BVG sei damit ausgeschlossen. Die Aufhebung der Rentenbewilligung sei aus öffentlichem Interesse geboten. Zugunsten des Interesses des Klägers sei berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in die Verantwortung der deutschen Verwaltung falle. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse die deutsche Verwaltungsentscheidung keinen Einfluß hätte.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch mit Schreiben vom 21. Januar 1993 ein und trug vor, daß er auf die Versorgungsleistung angewiesen sei. Ende April 1945 habe sein Vater zwei deutschen Soldaten Unterschlupf gewährt. Vorher hatte er bereits mitgeteilt, daß er ledig sei und seit dem Tod seiner Mutter 1990 allein lebe. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück; da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er keine Leistungen zurückzuzahlen. Für die Zukunft überwiege das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Gegen das auf diplomatischem Wege am 31. August 1993 zugestellte Urteil hat der Kläger am 21. Oktober 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei.

Mit Urteil vom 7. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und Widerspruchsbescheid aufgehoben. In seinen Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB V obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe in sei...

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