Entscheidungsstichwort (Thema)

Sog. Qualifizierter Rotlichtverstoß: "Abstrakte Gefährlichkeit" kein Terminus der Rechtsanwendung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei dem Begriff der "abstrakten Gefahr" handelt es sich um einen Terminus der Rechtsetzung, nicht um einen solchen der Rechtsanwendung.

2. Versuche, den Anwendungsbereich der Nr. 132.3 BKat mit dem Erfordernis einer konkret bestimmbaren "abstrakten Gefährlichkeit" zu reduzieren, sind systematisch unzulässig, weil sie in die Kompetenz des Gesetzgebers, abstrakte Gefährdungsdelikte zu kodifizieren, eingreifen.

3. Es verbietet sich, allein unter dem Gesichtspunkt, ein Rotlichtverstoß sei nicht "abstrakt gefährlich", vom indizierten Fahrverbot abzusehen (Aufgabe bisheriger Rechtsprechung, KG VRS 114, 60).

4. Von dieser Bewertung bleibt das Rechtsfolgeermessen des Tatrichters unberührt. Er ist befugt und veranlasst, im Rahmen einer Gesamtwürdigung unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls in objektiver und subjektiver Hinsicht zu bestimmen, ob das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in solchem Maße abweicht, dass das Fahrverbot unangemessen wäre.

 

Normenkette

StVO § 37 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 S. 7

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 09.12.2019; Aktenzeichen 304 OWi 1222/19)

 

Tenor

Die Sache wird dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. Dezember 2019 wird verworfen.

Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

 

Gründe

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffenen wegen eines sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße von 250 Euro verurteilt. Zugleicht hat es nach § 25 Abs. 1 StVG auf der Grundlage von Nr. 132.3 BKat ein Fahrverbot von einem Monat Dauer verhängt und dessen Wirksamkeitsbeginn nach § 25 Abs. 2a StVG bestimmt. Nach den Urteilsfeststellungen zeigte die Ampel bereits 1,1 Sekunden rotes Licht, als der Betroffene über die Haltlinie und sodann in den Kreuzungsbereich einfuhr. Hiergegen richtet sich der Betroffene mit dem Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung von Verfahrensrecht beanstandet und auch die allgemeine Sachrüge erhebt.

A. Der Einzelrichter RiKG S. überträgt die Sache zur Fortbildung des Rechts auf den Senat, der in der Besetzung mit drei Richtern entscheidet (§ 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG). Der Senat gibt seine Rechtsprechung, nach der es an der von Nr. 132.3 BKat vorausgesetzten "abstrakten Gefährlichkeit" fehlt, wenn im Zeitpunkt des Rotlichtverstoßes die Kreuzung für den Querverkehr noch durch rotes Ampellicht gesperrt ist, auf. Er folgt insoweit der Rechtsprechung des BayObLG.

B. Die zulässig erhobene Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

I. Ohne Erfolg bleibt zunächst die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe den "Beweisantrag", ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass die geräteseits abgezogene Toleranz "zu gering angesetzt" sei, verfahrensrechtswidrig abgelehnt. Das geeichte Messgerät ist durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt zugelassen worden. Zulassung und Eichung dienen gerade dazu, das Tatgericht von einer einzelfallbezogenen Überprüfung der technischen Funktionsweise der Messgeräte zu entlasten. Rechtsfehlerfrei hat es das Amtsgericht abgelehnt, den unnötigen Beweis zu erheben.

II. Auch die Rüge, das Amtsgericht habe einen weiteren Beweisantrag unzulässig abgelehnt, bleibt ohne Erfolg.

Der Verteidiger hat beantragt, ein Sachverständigengutachten auch zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass "der Querverkehr nicht gefährdet werden konnte, da bei Eintritt der für den Querverkehr geltenden Grünphasen der Betroffene den geschützten Kreuzungsbereich längst verlassen hatte." Die Beweiserhebung zielte erkennbar auf die Feststellung, dass die von Nr. 132.3 BKat vorausgesetzte abstrakte Gefahr, die Grundlage des Regelfahrverbots ist, hier nicht gegeben war.

Auch diesen Beweisantrag hat das Amtsgericht rechtsfehlerfrei abgelehnt.

1. Allerdings hat der Senat in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Fallkonstellationen und mit verschiedenen Formulierungen entschieden, dass von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden kann oder sogar abzusehen ist, sofern der Rotlichtverstoß mit keiner abstrakten Gefahr oder "abstrakten Gefährdung" verbunden gewesen sei. So heißt es in einer Entscheidung vom 7. April 2010 - 3 Ws (B) 115/10 - (NZV 2010, 361 = VRS 119, 48):

"Die ... Regelahndung ist aber nicht bei jedem Verstoß, der länger als eine Sekunde nach Beginn der Rotphase begangen wird, indiziert. Vielmehr soll Nr. 132.2 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV a.F. ebenso wie die Vorläuferreglung Nr. 34.2 eine schärfere Ahndung besonders schwerwiegender Rotlichtverstöße erlauben, da die - häufig im Zusammenhang mit überhöhter Geschwindigkeit begangene - Missachtung eines Wechsellichtzeichens bei länger als einer Sekunde andauernder Rotlichtphase nach der amtlichen Begründung (VkBl. 1991, 702, 704) als besonders gefährlich anzuse...

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