Entscheidungsstichwort (Thema)
Prognosegutachten zum Zwecke bestmöglicher Sachaufklärung. Versagung der Reststrafenaussetzung bei Verheimlichung von Tatbeute
Leitsatz (amtlich)
1. § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO schreibt die Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens vor, wenn das Gericht "erwägt", die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB auszusetzen, und nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung entgegenstehen. Einen Anspruch darauf, dass stets vor der Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB ein Gutachten eingeholt wird, hat der Verurteilte jedenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht. Jedoch kann die Verneinung eines "Erwägens" im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung regelmäßig nur dann in Betracht kommen, wenn die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung völlig fernliegend und als ernsthafte Alternative zur Fortdauer der Strafhaft von vornherein ausgeschlossen erscheint.
2. Eine Strafrestaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB kann trotz Erstverbüßung im Einzelfall ausscheiden, wenn die Umstände der Tatbegehung sowie das Umfeld des Verurteilten auf dessen nachhaltige Verstrickung in ein kriminogenes Milieu schließen lassen (etwa beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln oder bei Taten der organisierten Kriminalität), in seiner Persönlichkeitsstruktur und seinen Lebensverhältnissen nach wie vor ernstzunehmende Rückfallrisiken angelegt sind (etwa bei wiederholter Begehung einschlägiger Straftaten, bei einer gravierenden, für wiederholte, erhebliche Straftaten ursächlichen Suchtproblematik oder mehrfachem Bewährungsversagen in Verbindung mit weiteren Umständen) oder wenn bei einem Rückfall Rechtsgüter von besonderem Gewicht bedroht sind (etwa bei schweren Gewalttaten oder bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung).
3. Das Leugnen der Tatbegehung steht einer bedingten Entlassung nicht per se entgegen. Eine Tataufarbeitung wird in derartigen Fällen bereits dann angenommen, wenn behandlungsorientierte Gespräche den Täter veranlasst haben, sich unabhängig vom Eingeständnis persönlicher Schuld ernsthaft mit dem Tatgeschehen auseinanderzusetzen, dessen Sozialschädlichkeit zu erkennen und die eigene Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit so weit zu stärken, dass die Gefahr eines Rückfalls nur noch gering erscheint.
4. Aus der unterlassenen Schadenswiedergutmachung kann eine ungünstige Kriminalprognose oder eine fehlende Unrechtseinsicht nicht ohne Weiteres hergeleitet werden.
5. Der Vorschrift des § 57 Abs. 6 StGB liegt der Gedanke zu Grunde, Fälle des bloßen "Absitzens" der Strafe bei gleichzeitigem Verheimlichen von Tatbeute von der Reststrafenaussetzung auszunehmen. Die fehlende Bereitschaft des Verurteilten, zur Schadenswiedergutmachung beizutragen, kann den Schluss auf eine mögliche Rückfallgefährdung zulassen, so dass die Aussetzung des Strafrestes schon mangels günstiger Sozialprognose ausscheidet. § 57 Abs. 6 StGB erlangt nur dort Bedeutung, wo das dort umschriebene Verhalten des Verurteilten trotz günstiger Beurteilung im Übrigen gegen die Aussetzung spricht. Die Anwendung des § 57 Abs. 6 StGB setzt voraus, dass (noch) Gegenstände vorhanden sind, die der Einziehung bzw. dem Verfall von Taterträgen gemäß § 73 Abs. 1 StGB unterliegen.
6. Von § 57 Abs. 7 StGB ist mit Augenmaß Gebrauch zu machen. Eine Frist sollte in der Regel nur bei sich wiederholenden aussichtslosen oder missbräuchlich gestellten, querulatorischen Anträgen des Verurteilten und nur für die Zeit festgesetzt werden, in der eine günstige Veränderung der Täterprognose nicht zu erwarten ist.
Normenkette
StPO § 454 Abs. 2; StGB § 57 Abs. 1, 6-7
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 12.03.2021; Aktenzeichen 272 Js 5772/15 (29103) V - 599 StVK 52/21) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer -vom 12. März 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer verbüßt zurzeit eine gegen ihn mit Urteil des Amtsgerichts Tiergarten - erweitertes Schöffengericht - vom 5. April 2017 (212 Ls 51/16) in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Landgerichts Berlin vom 14. Dezember 2018 - 523 Ns 16/17 - verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten wegen räuberischen Diebstahls, von der ein Teil von zwei Monaten wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als bereits vollstreckt gilt.
Der Verurteilung lag folgendes Tatgeschehen zugrunde:
Der damalige Angeklagte (im Folgenden: Beschwerdeführer) arbeitete am Vormittag des 5. Oktober 2015 in seiner dort erst seit wenigen Monaten ausgeübten Tätigkeit als Tankwart in der H-Tankstelle in der B Straße. Die von dem Tankstelleninhaber als besonders integer ge...