Entscheidungsstichwort (Thema)
Stromdiebstahl bei all-inclusive-Stromlieferungsvertrag: Netzentgeltpflicht des Stromlieferanten
Leitsatz (amtlich)
Hat der Stromlieferant mit dem Lieferkunden einen sog. all-inclusive-Stromlieferungsvertrag abgeschlossen und zudem mit dem Lieferkunden vereinbart, dass auch unter Umgehung von Messeinrichtungen verwendeter Strom (sog. Stromdiebstahl) als Lieferung anzusehen sei, ist eine solche Entnahme auch im Verhältnis zwischen Stromlieferant und Netzbetreiber als netzentgeltpflichtige Belieferung der Entnahmestelle des Lieferkunden anzusehen.
Normenkette
EnWG § 20; NAV § 13 Abs. 3 Fassung: 2010-09-03, § 3 Abs. 2, § 5 S. 2; StromNEV § 2 Nr. 6 Fassung: 2013-08-14
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 25.04.2018; Aktenzeichen 35 O 552/16) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 25. April 2018 verkündete Urteil der Zivilkammer 35 des Landgerichts Berlin - Geschäftsnummer 35 O 552/16 - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin 99.661,52 EUR nebst Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30. August 2015 zu zahlen. Wegen des weitergehenden Zinsanspruchs wird die Klage abgewiesen.
Die Hilfswiderklage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
A. Die Klägerin ist Versorgungsnetzbetreiberin in Berlin. Die Beklagte ist eine Stromlieferantin aus Südwestdeutschland. Im Jahr 2008/09 schlossen die Parteien einen Lieferantenrahmenvertrag (fortan: LRV), wegen dessen Einzelheiten auf die als Anlage K1 zu den Akten gelangte Kopie verwiesen wird. In der Zeit vom 1. April 2014 bis 7. Juli 2015 belieferte die Beklagte unter Nutzung des Netzes der Klägerin eine in 12277 Berlin belegene Entnahmestelle. Dem lag ein mit dem Kunden abgeschlossener sog. all-inclusive-Stromlieferungsvertrag zugrunde. Am 7. Juli 2015 stellte sich heraus, dass in dem Gebäude eine Cannabis-Plantage unterhalten wurde. Die Strafverfolgungsbehörden fanden eine Vorrichtung vor, mittels derer elektrische Energie zum Betrieb von u.a. Beleuchtungs-, Belüftungs- und Bewässerungseinrichtungen entnommen wurde, ohne dass der Verbrauch über den vorhandenen Zähler erfasst wurde.
Mit der vorliegenden Klage nimmt die Klägerin die Beklagte auf Zahlung von Netznutzungsentgelten für die Zeit vom 1. April 2014 bis 7. Juli 2015 in Anspruch, welche sie unter dem 14. Juli 2015 abgerechnet hatte. Die Beklagte tritt dem entgegen und führt - für den Fall der Klagestattgabe - Hilfswiderklage auf Schadensersatz wegen behaupteter Verletzung vertraglicher Nebenpflichten aus dem Lieferantenrahmenvertrag. Sie trägt vor, die Klägerin hätte die Manipulation der Anlage bei Gelegenheit eines am 16. September 2014 durchgeführten Zählerwechsels erkennen können und müssen. Wegen der landgerichtlichen Feststellungen im Übrigen wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klägerin habe gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung von Netznutzungsentgelten aus Ziffer 8.1, 9 LRV für die Strommengen, die der Kunde unter Umgehung der Messeinrichtung entnommen habe. Die Auslegung des Lieferantenrahmenvertrages nach dem objektiven Empfängerhorizont führe zu dem Ergebnis, dass die Klägerin als Netzbetreiberin das Risiko einer Stromentnahme unter Umgehung der Messeinrichtung zu tragen habe. Gemäß Ziffer 4.1 LRV sei der Netzbetreiber für Einbau, Betrieb und Wartung der Messeinrichtungen sowie für die Erfassung der vom Kunden entnommenen elektrischen Energie verantwortlich. In Ziffer 10.3 LRV sei festgestellt, dass der Netzbetreiber zur Unterbrechung der Versorgung zur Verhinderung einer unberechtigten Stromentnahme befugt sei. Diese Vorschriften seien Grundlage einer generellen Risikoverteilung zwischen den Vertragsparteien. Über die Hilfswiderklage sei demnach nicht zu entscheiden.
Gegen die Entscheidung wendet sich die Klägerin mit der Berufung. Sie macht geltend, die Auffassung des Landgerichts zur vertraglichen Risikoverteilung sei rechtsfehlerhaft. Soweit sie nach Ziffer 4.1 LRV Messeinrichtungen zur Verfügung zu stellen und diese zu betreiben habe, habe sie diese Pflichten erfüllt. Dagegen sei nicht geregelt, dass sie das Risiko fehlender Messwerte trage, schon gar nicht für den Fall, dass der Grund hierfür in der Umgehung der Messeinrichtung durch den Kunden liege. Zudem hätten die Parteien in Ziffern 4.4 und 4.5 LRV geregelt, was gälte, wenn - wie vorliegend - trotz vertragsgemäßer Installation einer Messeinrichtung keine Messwerte vorlägen. Die Sichtwe...