Leitsatz (amtlich)

1. Der Anscheinsbeweis der Verletzung der aus § 9 III 2 StVO folgenden Wartepflicht des Linksabbiegers wird durch die überhöhte Geschwindigkeit des Bevorrechtigten nicht erschüttert und schränkt auch den Vorrang des entgegenkommenden Verkehrs nicht ein.

2. Überschreitet der entgegenkommende Bevorrechtigte die innerorts zulässige Geschwindigkeit mit (mindestens) 80 km/h deutlich, so tritt das Mitverschulden des Wartepflichtigen zwar noch nicht vollständig zurück, es ist aber eine Quote von 2/3 zulasten des Bevorrechtigten angemessen.

3. Dem Geschädigten, der die Reparaturkosten finanzieren müsste, steht es nicht frei, von einer Inanspruchnahme der Vollkaskoversicherung abzusehen, wenn die Versicherung des Schädigers die Regulierung hinauszögert, weshalb sein Mitverschulden den Anspruch auf Mietwagenkosten einschränken kann.

4. Die Kosten anwaltlicher Vertretung gegenüber der Vollkaskoversicherung sind auch dann in vollem Umfang zu erstatten (insoweit offengelassen von BGH, Urteil vom 11.7.2017 - VI ZR 90/17 - Rn. 18), wenn erst nachträglich die Einschaltung eines Rechtsanwaltes erforderlich geworden ist.

 

Normenkette

BGB § 249; StVO §§ 3, 9

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Aktenzeichen 42 O 289/15)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das am 26. Mai 2017 verkündete Urteil der Zivilkammer 42 des Landgerichts Berlin - 42 O 289/15 - teilweise geändert:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.385,65 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13. November 2015 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 2/3 sämtlicher Schäden zu ersetzen, die für ihn aus der Inanspruchnahme seiner Vollkaskoversicherung, der Direct Line Versicherung AG, Versicherungsschein-Nr. AID80855164, aus Anlass des Unfalls vom 27. Februar 2015 resultieren.

Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 40 % und die Beklagten zu 60 % zu tragen.

Das Urteil sowie - im Umfang der Zurückweisung der Berufung - das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger befuhr den Gosener Damm in südöstlicher Richtung und bog nach links in die einmündende Meisenheimer Straße ab. Der Beklagte zu 1. befuhr den Gosener Damm in entgegengesetzter Richtung. Das Fahrzeug des Klägers, ein VW Passat Kombi, wurde hinten rechts von der Front des Fahrzeuges des Beklagten zu 1., einem VW Polo älteren Baujahrs, getroffen. An der Unfallstelle galt die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Die Parteien streiten u.a. hinsichtlich der Höhe der Überschreitung dieser Höchstgeschwindigkeit durch den Beklagten zu 1.

Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen, wogegen sich der Kläger mit seiner Berufung wendet.

Von der weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.

II. Die zulässige Berufung des Klägers ist überwiegend begründet, im Übrigen jedoch unbegründet.

Das Landgericht hat die Klage zu Unrecht bereits mangels Haftung der Beklagten abgewiesen, denn dem Kläger steht gegen den Beklagten zu 1. als Halter und Fahrzeugführer sowie den Beklagten zu 2. als Haftpflichtversicherer gemäß §§ 823 Abs. 1, 249 BGB; §§ 7, 17, 18 StVG; § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und S. 4 VVG; § 421 BGB wegen des Verkehrsunfalls vom 27. Februar 2015 auf dem Gosener Damm dem Grunde nach der geltend gemachte Schadenersatzanspruch in Höhe von 2/3 zu.

1. Der Kläger macht zu Recht geltend, dass das Landgericht das Ergebnis der Beweisaufnahme hinsichtlich der von dem Beklagten zu 1. gefahrenen Geschwindigkeit offensichtlich unvollständig gewürdigt hat und deshalb zu einem falschen Ergebnis gelangt ist. Vielmehr hat der Beklagte zu 1. zweifelsfrei gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen, weil er mit (mindestens) 80 km/h gefahren ist, obwohl innerorts eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h einzuhalten gewesen wäre. Angesichts der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung gegenüber der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 30 km/h müssen sich die Beklagten ein grobes (Mit-) Verschulden des Beklagten zu 1. anrechnen lassen.

Das Landgericht hat die Grundlage der Beweiswürdigung hinsichtlich der Frage, ob und in welcher Länge die Bremsspur von dem Fahrzeug des Beklagten zu 1. stammt, verkürzt. Bei umfassender Berücksichtigung aller Umstände bleiben aber keine Zweifel mehr daran, dass die Spur von dem Fahrzeug des Beklagten zu 1. stammt und dieser mit mindestens 80 km/h fuhr, als er den abbiegenden Kläger hätte wahrnehmen können.

a) Zum einen hätte das Landgericht berücksichtigen müssen, dass der Beklagte zu 1. ein Blockieren der Räder geschildert hat (Anhörung des Beklagten zu 1. am Unfalltag durch die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten, Beiakte, S. 2; persönliche Anhörung des Beklagten zu 1. durch den Richter erster Instanz, Sitzungsprotokoll vom 29. April 2016, S. 3 = Bd. I Bl. 148 d.A.), wodurc...

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