Leitsatz (amtlich)
1. Verstöße gegen die Sorgfaltspflichten durch Überholen bei unklarer Verkehrslage mit (beabsichtigtem) anschließendem Fahrstreifenwechsel sind nicht zurechenbar, wenn der Überholvorgang rechtzeitig abgebrochen wird und das überholende Fahrzeug noch in seinem (endenden) Fahrstreifen anhält.
2. Verkehrsteilnehmer sind gegenüber Fahrzeugen mit gelbem Blinklicht (nur) zu erhöhter Sorgfalt verpflichtet und haben daher auf die besondere Gefahr, hier wegen der Überlänge, entsprechend zu achten.
Normenkette
StVO § 1 Abs. 2, § 5 Abs. 3 Nr. 1, § 7 Abs. 5, § 38 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 13.04.2021; Aktenzeichen 45 O 77/20) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das am 13. April 2021 verkündete Urteil der Zivilkammer 45 des Landgerichts Berlin - 45 O 77/20 - teilweise geändert:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.877,12 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7. September 2019 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin zu 54 % und die Beklagten zu 46 % zu tragen.
Das Urteil sowie - im Umfang der Zurückweisung der Berufung - das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Von der Darstellung des Sachverhaltes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
II. Die zulässige Berufung der Klägerin ist nur teilweise begründet. Der Senat folgt im Wesentlichen den tatsächlichen - unangegriffenen - Feststellungen des Landgerichts, vermag jedoch die Feststellung zum Überschreiten der Leitlinie durch den geschleppten Lkw und die rechtlichen Schlussfolgerungen nicht zu teilen.
Der Klägerin als Eigentümerin des Pkw steht gegen die Beklagten als Führer sowie Haftpflichtversicherer der in Höhe von 12.665,24 EUR geltend gemachte Schadenersatzanspruch wegen des Verkehrsunfalls vom 1. Juli 2019 in Berlin auf der von der Beusselstraße abgehenden Zufahrt zur A 100 in Richtung Seestraße gemäß §§ 823 Abs. 1, 249 BGB; §§ 7, 17, 18 StVG; § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und S. 4 VVG; § 421 BGB (nur) in Höhe von 5.877,12 EUR zu. Im Übrigen steht der Klägerin der Anspruch wegen eines anzurechnenden (Mit-) Verschuldens des Fahrers ihres Pkw zur Hälfte und wegen eines Teils der Schadenspositionen insgesamt nicht zu.
1. Das Landgericht hat im Rahmen der Beweiswürdigung zu Unrecht nur nicht ausschließen können, dass das von dem Beklagten zu 1. - im Rahmen einer Umsetzung - abgeschleppte Abschleppfahrzeug in den von dem Fahrer des Pkw der Klägerin genutzten linken Fahrstreifen geraten sein muss. Vielmehr steht das schon aufgrund des Fotos der Endstellung des geschleppten Lkw fest, das sich zweifelsfrei nicht mit den abweichenden Bekundungen der Zeugen in Einklang bringen lässt und diese widerlegt. Es zeigt ein Überschreiten bzw. Befahren der Leitlinie durch die Vorderachse des (rückwärts) geschleppten Lkw. Die Situation im Übrigen ergibt sich ebenfalls klar, insoweit ist den Feststellungen des Landgerichts zu folgen. Das Abschleppgespann und ihm nachfolgend das Fahrzeug des Ordnungsamtes fuhren in dem Linksabbiegerfahrstreifen voran. Das - nach der unbestrittenen Angabe des Beklagten zu 1. anlässlich seiner Anhörung - 22 m lange Gespann befuhr nach dem Linksabbiegen zwar zunächst beide Fahrstreifen, ordnete sich sodann jedoch in den rechten (von zwei) Fahrstreifen ein. Im Anschluss trat ein weiterer Bus-Lkw-Sonderfahrstreifen rechts hinzu, während der linke Fahrstreifen in ca. 80 m, von der Einmündung gemessen, bzw. 50 m, von dem Hinzutreten des rechten Sonderfahrstreifens gemessen, endete bzw. die Verschmälerung des Fahrstreifens begann. Das Gespann blieb in dem - nun mittleren - Fahrstreifen. Eine Überbreite lag nicht vor. Der Fahrer des Pkw der Klägerin versuchte den linken Fahrstreifen zu nutzen, um das Fahrzeug des Ordnungsamtes sowie das Gespann zu überholen, was ihm nicht mehr gelang. Er kam jedoch noch vor der Verengung des linken Fahrstreifens in diesem zum Stehen. An welcher Stelle der Pkw (rechte Seite) sowie der abgeschleppte Lkw (rechte vordere Stoßstange [hier also links]) kollidierten ist im Übrigen ungeklärt und lässt sich auch durch ein Gutachten, das nur die relative Kollisionsstellung ermitteln könnte, nicht klären. Aufgrund der Endstellung steht jedoch fest, dass der abgeschleppte Lkw in den linken Fahrstreifen gelangt sein muss. Das ist zudem plausibel, weil es mit dem Gespann nicht möglich gewesen sein dürfte, dass der geschleppte Lkw, der lediglich auf der Vorderachse rollte, dem Verlauf des mittleren Fahrstreifens folgen konnte, weil die Verschwenkung für ein 22 m langes Gespann relativ eng ausfällt. Dementsprechend hat auch der Beklagte zu 1. wegen der Verschwenkung erklärt, er könne nicht sagen, in welcher Position sich der geschleppte Lkw befunden habe. Im Übrigen wäre dieser Punkt rechtlich auch unerheblich, weil andernfalls eine ungeklärte Sachlage anzunehmen wäre (s.u. 7.).
2. Daraus folgt jedoch - anders a...