Entscheidungsstichwort (Thema)
Sonderkündigungsschutz eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nach § 90 Abs. 2a SGB IX
Leitsatz (redaktionell)
§ 90 Abs. 2a SGB IX setzt für die Geltung des Sonderkündigungsschutzes voraus, dass der Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter länger als drei Wochen bzw. sieben Wochen (bei Erforderlichkeit eines Gutachtens) vor Zugang der Kündigung gestellt wurde.
Normenkette
SGB IX § 90 Abs. 2a, §§ 85, 69 Abs. 1 S. 2, § 14 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Heilbronn (Urteil vom 28.09.2005; Aktenzeichen 7 Ca 303/05) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 28. September 2005 (Az.: 7 Ca 303/05) wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
2. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch um die Wirksamkeit einer ordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung zum 31.12.2005.
Die 1956 geborene Klägerin ist seit 1991 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Küchenhilfe beschäftigt. Die Beklagte hat das Arbeitsverhältnis am 12.05.2005 außerordentlich, hilfsweise ordentlich gekündigt. Am selben Tag hat die Klägerin einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderte beim Landratsamt und einen Antrag auf Gleichstellung mit einer Schwerbehinderten bei der Agentur für Arbeit in S. gestellt. Vom Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung setzte die Klägerin die Beklagte mit Klage vom 19.05.2005 in Kenntnis.
Mit Bescheid vom 22.06.2005 stellte das Landratsamt einen Grad der Behinderung von 30, beginnend ab 12.05.2005 fest (ABl. 22 der erstinstanzlichen Akte); mit Bescheid vom 11.08.2005 wurde die Klägerin mit Wirkung vom 12.05.2005, 15.18 Uhr, einer Schwerbehinderten gleichgestellt (ABl. 109 der erstinstanzlichen Akte). Das Integrationsamt ist vor der streitgegenständlichen Kündigung nicht eingeschaltet worden. Der mit Schreiben vom 04.05.2005 (ABl. 56 ff. der erstinstanzlichen Akte) angehörte Betriebsrat hat gegen die außerordentliche Kündigung „erhebliche Bedenken” angemeldet (Schreiben vom 10.05.2005, ABl. 60 der erstinstanzlichen Akte) und der ordentlichen Kündigung gem. § 102 Abs. 3 Satz 3 BetrVG widersprochen, weil die Klägerin z.B. im Reinigungsdienst weiterbeschäftigt werden könne, wo sie überwiegend alleine tätig sein könne ohne das „Risiko”, ständig mit Kolleginnen und Kollegen in Konflikt zu geraten.
Die Beklagte wirft der Klägerin vor, Kolleginnen trotz einschlägiger Abmahnung mehrfach beleidigt und in einem Fall tätlich angegriffen zu haben. Die Klägerin bestreitet die der Kündigung zu Grunde liegenden Vorwürfe und hält die Kündigung im Übrigen gem. § 85 SGB IX für unwirksam. Die Klägerin hat deshalb erstinstanzlich beantragt,
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche noch durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12.05.2005 beendet wurde;
- für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag zu 1 die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Assistentin Betriebsverpflegung weiterzubeschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen, hilfsweise das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung aufzulösen.
Die Klägerin ist dem Auflösungsantrag entgegengetreten.
Das Arbeitsgericht hat nach Beweisaufnahme
- festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 12.05.2005 nicht außerordentlich fristlos, sondern ordentlich fristgerecht mit Ablauf des 31.12.2005 aufgelöst wird;
- die Beklagte verurteilt, die Klägerin bis zum Ablauf des 31.12.2005 zu unveränderten Bedingungen als Assistentin Betriebsverpflegung weiterzubeschäftigen.
Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es ist davon ausgegangen, dass die Klägerin die Zeugin T. im April 2005 mit den Worten „Du schlafen mit Deinem Sohn” und bereits im Januar 2005 mit den Worten „Die Deutschen haben ihre Muschi hinten und die ist schmutzig und die Afrikafrauen haben ihre Muschi vorne und die ist sauber” beleidigt hat. Weiter hat das Arbeitsgericht angenommen, dass die Klägerin die Zeugin K. am 03.04.2003 als „dumme Sau” beschimpfte und die Zeugin B. im November 2003 wiederholt als „Arschloch” betitelte, so dass die Abmahnungen vom 08.04. und 21.11.2003 auf zutreffenden Sachverhalten beruhten. Da der Beklagten jedoch zumutbar gewesen sei, die Klägerin bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiter zu beschäftigten, hat es der Kündigungsschutzklage insoweit und dem Weiterbeschäftigungsantrag bis zum 31.12.2005 stattgegeben. Die ordentliche Kündigung verstoße weder gegen
§ 102 BetrVG noch gegen § 85 SGB IX. Ungeachtet dessen, dass die Klägerin erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz das Ergebnis des Gleichstellungsverfahrens mitgeteilt habe, könne sie sich gem. § 90 Abs. 2a SGB IX nicht auf den Sonderkündigungsschutz als Schwerbehinderte berufen.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts einschließlich der Beweisaufnahme...