Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung bei Betriebsstilllegung unter irrtümlicher Bewertung als Teilbetriebsübergang
Leitsatz (amtlich)
1. Die Stilllegung des gesamten Betriebes gehört zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen i.S.d.. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung abgeben können.
2. Eine vom Arbeitgeber mit einer Stilllegungsabsicht begründete Kündigung ist nur dann sozial gerechtfertigt, wenn sich die geplante Maßnahme objektiv als Betriebsstilllegung und nicht als Betriebsveräußerung darstellt. Umgekehrt ist eine Betriebsstilllegung nicht allein deshalb zu verneinen, weil der Arbeitgeber Tatsachen unrichtig statt als Betriebsstilllegung als Betriebsübergang bewertet hat. Eine etwaige unzutreffende rechtliche Bewertung des Arbeitgebers über diesen Vorgang ist vielmehr unerheblich.
Normenkette
KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3; BGB § 613 a Abs. 4
Verfahrensgang
ArbG Reutlingen (Entscheidung vom 20.03.2012; Aktenzeichen 4 Ca 111/11) |
Tenor
1.
Auf die Berufung der Beklagten Ziffer 1 wird das Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 20.03.2012 - Az. 4 Ca 111/11 - abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
2.
Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
3.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufung noch über die Wirksamkeit der von der Beklagten Ziff. 1 mit Schreiben vom 23.12.2010 und vom 28.07.2011 ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigungen.
Der am 00.00.1971 geborene, verheiratete und einem Kind unterhaltsverpflichtete Kläger ist bei der Beklagten Ziff. 1 seit 00.00.2000 als Berufskraftfahrer zu einer Bruttomonatsvergütung von 3.169,13 EUR beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis liegt ein schriftlicher Arbeitsvertrag vom 23.04.2009 (Bl. 5 - 9 der erstinstanzlichen Akte) zu Grunde.
Die Beklagte Ziff. 1 betrieb ein Unternehmen des Speditions- und Transportgewerbes. Die Gesellschafterin der Beklagten ist die B. H. GmbH & Co. KG. Die Beklagte ist eine 100%ige Tochter der B.-Gruppe. Der Hauptsitz der Beklagten Ziff. 1 ist in R.. Daneben unterhielt sie Standorte in M., P. und W.. Die Beklagte beschäftigte zuletzt regelmäßig 280 Mitarbeiter. Ein Betriebsrat war nicht gebildet.
Die Beklagte Ziff. 1 kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit Schreiben vom 23.12.2010, dem Kläger zugegangen am 27.12.2010, ordentlich zum 30.04.2011. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage ging am 17.01.2011 beim Arbeitsgericht ein. Die Beklagte erhielt sie am 20.01.2011 zugestellt.
Die Beklagte Ziff. 1 kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger erneut mit Schreiben vom 28.07.2011, dem Kläger zugegangen am 29.07.2011, ordentlich zum 30.11.2011. Hiergegen erhob der Kläger klageerweiternd eine Kündigungsschutzklage, die am 15.08.2011 beim Arbeitsgericht eingegangen ist und die die Beklagte am 08.08.2011 zugestellt erhielt.
Die Beklagte stützt die Kündigungen auf betriebsbedingte Gründe. Bis zum 30.09.2010 unterhielt die Beklagte Ziff. 1 fünf von ihr sogenannte "Geschäftsbereiche", nämlich
- Ladungsverkehre
- Gebietsspedition/Nahversorgung und Werksversorgung
- Spezialverkehre
- Nationale Stückgutverkehre/Systemverkehre
- Hafenverkehre.
Unter "Ladungsverkehre" verstand die Beklagte Ziff. 1 Verkehre mit Komplettladungen für nur einen Kunden. Die Beklagte Ziff. 1 unterteilte diesen Geschäftsbereich in Ladungsverkehre R. und Ladungsverkehre M.. In R. wurden hauptsächlich Verkehre für die Kunden I. und P. & G. abgewickelt, in M. dagegen Verkehre für die Kunden K., K. und K..
Unter "Werksverkehr" verstand die Beklagte Ziff. 1 den Transport von Produktionsmaterial aus dem Nahverkehr an den Produktionsstandort des Kunden. Diesen Verkehr wickelte sie ausschließlich für die Firma D. AG für das Werk S. ab. Unter den Begriff "Gebietsspedition" fasste die Beklagte Ziff. 1 die Abholung von Materialien von Lieferanten für einen Produktionsbetrieb bei Umschlag an einem Konsolidierungspunkt. Diese Verkehre fuhr die Beklagte vor allem für die Kunden D. und B.. Diese Verkehre wurden hauptsächlich mit sogenannten Jumbogliederzügen und Megatrailern abgewickelt.
Unter "Spezialverkehre" verstand die Beklagte Ziff. 1 Silofahrzeuge, die Tankabteilung und Kipperfahrzeuge.
Als "Systemverkehre" bezeichnete die Beklagte Ziff. 1 eine besondere Art des Stückguttransports, bei dem von unterschiedlichen Mitgliedern eines Zusammenschlusses Güter zu abgesprochenen Konsolidierungspunkten verbrachten wurden und von dort wieder verteilt wurden.
Mit "Hafenverkehre" ist die Verschiffung von Waren am Hafen P. gemeint. In diesem Bereich beschäftigte die Beklagte Ziff. 1 keine Kraftfahrer.
Jeder dieser Geschäftsbereiche bildete bei der Beklagten Ziff. 1 ein sogenanntes Profitcenter. Ihnen wurden jeweils eigene Kostenstellen zugewiesen. Zur Planung der Verkehre wurde jedem Geschäftsbereich ein oder mehrere Disponenten zugewiesen.
Bereits zum 30.09.2010 stellte die Beklagte Ziff. 1 den Geschäftsbereich ...