Entscheidungsstichwort (Thema)
Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Sperrwirkung und Tarifbindung. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Anforderungen an eine tarifliche Öffnungsklausel. Unwirksame Betriebsvereinbarung bei Verstoß gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG. Keine allgemeine Öffnungsklausel in § 1.2.1 des MTV Metall- und Elektroindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Betriebsvereinbarung unterfällt der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG, wenn sie die Zahlung einer stundenbezogenen und betragsmäßig bezifferten (Spätschicht-) Zulage unter denselben Tatbestandsvoraussetzungen vorsieht, unter denen nach dem einschlägigen Tarifvertrag ein prozentualer Zuschlag je Arbeitsstunde zu zahlen ist. Die Unzulässigkeit nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erstreckt sich auf Regelungen einer Betriebsvereinbarung, die im Verhältnis zu denen des Tarifvertrages inhaltsgleich oder günstiger sind.
2. § 1.2.1 des Manteltarifvertrages für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung, wonach der Tarifvertrag die Mindestbedingungen der Arbeitsverhältnisse regelt und ergänzende Bestimmungen durch Betriebsvereinbarung vereinbart werden können, enthält keine allgemeine Öffnungsklausel iSd. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG dient der Sicherung der ausgeübten Tarifautonomie sowie der Erhaltung und Stärkung der Funktionsfähigkeit der Koalitionen. Die durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie sollen nicht durch Betriebsvereinbarungen gefährdet werden.
2. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG hängt nicht von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers ab. § 77 Abs. 3 BetrVG ist keine Kollisionsnorm, sondern dient dem Zweck der funktionsfähigen Tarifautonomie und räumt den Tarifvertragsparteien den Vorrang bei Regelungen der Arbeitsbedingungen ein.
3. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.
4. Durch eine tarifvertragliche Öffnungsklausel können die Tarifvertragsparteien die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG beseitigen und ausdrücklich den Weg frei machen für eine betriebliche Normsetzung. Erforderlich ist aber eine ausdrückliche Zulassung mit klarer und eindeutiger Regelung, welcher Gegenstand in welchem Umfang betrieblich geregelt werden darf.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3; MTV für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden § 1.2.1, §§ 9-10; GG Art. 9 Abs. 3; TVG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 3; BGB § 613a Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Heilbronn (Entscheidung vom 16.12.2021; Aktenzeichen 3 Ca 208/21) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Heilbronn vom 16. Dezember 2021 - 3 Ca 208/21 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Parteien sind Ansprüche auf Zahlung von Zulagen aufgrund einer Betriebsvereinbarung im Streit.
Wegen des streitigen und des unstreitigen Vorbringens der Parteien wird auf die nicht angefochtenen Feststellungen des Arbeitsgerichts im Tatbestand auf den Seiten 2 bis 9 des Urteils vom 16. Dezember 2021 Bezug genommen, § 69 Abs. 2 ArbGG (Abl. 21 ff.), mit der Maßgabe, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien bereits mit Wirkung zum 01. August 1987 begründet wurde (vgl. hierzu Sitzungsniederschrift vom 27. Juli 2022, Abl. 88).
Das Arbeitsgericht hat sowohl die für die Monate November 2020 bis einschließlich September 2021 erhobene Zahlungsklage als auch das die Monate Oktober bis Dezember 2021 betreffende Feststellungsbegehren für zulässig gehalten, aber als unbegründet abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Die von der Rechtsvorgängerin der Beklagten abgeschlossene Betriebsvereinbarung Nr. 01/2017 Leistung von Zuschlägen vom 11. Juli 2017 sei in Bezug auf die Spätschichtzulage unwirksam nach Maßgabe des § 77 Abs. 3 BetrVG. Auf die Tarifgebundenheit der Rechtsvorgängerin der Beklagten komme es nicht an; diese hätte unstreitig Mitglied im Arbeitgeberverband Südwestmetall sein können. Damit sei schon bei Abschluss der Betriebsvereinbarung der fachliche Geltungsbereich des Manteltarifvertrages für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (MTV) eröffnet gewesen. Der Anwendun...