Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässige Differenzierung zwischen Nachtarbeit in Wechselschicht und sonstiger Nachtarbeit. Ungleichbehandlung von unterschiedlich hohen Nachtzuschlägen bis 50% im MTV Süßwarenindustrie Verstoß gegen Art. 3 GG. Ausgleich von Ungleichbehandlungen bei Höhe der Nachtzuschläge im Bezugssystem durch Anpassung nach oben. Unwirksame Ausschlussfrist bei Geltung für jedwede Ansprüche

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die in § 4 II. Nr. 1 Buchst. b des Bundesmanteltarifvertrags für die Süßwarenindustrie vom 14. Mai 2007 (BMTV) enthaltene Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Zuschläge für Nachtarbeit sind gegenüber den Zuschlägen für Nachtschichtarbeit bei Berücksichtigung aller maßgeblichen Ausgleichsregelungen annähernd doppelt so hoch. Beide Arbeitnehmergruppen sind vergleichbar. Dem BMTV ist kein Sachgrund für die Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit zu entnehmen.

2. Die nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbarende Ungleichbehandlung des Klägers, der für Schichtarbeit im Zeitraum von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr lediglich den Zuschlag von 15% erhält, kann nur durch eine Anpassung "nach oben" beseitigt werden. Die Anpassung "nach oben" hat sich an der günstigeren Regelung zu orientieren. Diese Norm enthält das einzig verbleibende gültige Bezugssystem.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; GewO § 106; ArbZG § 2 Abs. 5, § 6; BGB § 202 Abs. 1, §§ 134, 202

 

Verfahrensgang

ArbG Ulm (Entscheidung vom 15.06.2021; Aktenzeichen 6 Ca 298/20)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm - Kammern Ravensburg - vom 15. Januar 2021 - 6 Ca 298/20 - überwiegend unter gleichzeitiger Zurückweisung der um einen Cent weitergehenden Berufung abgeändert:

    Die Beklagte wird verurteilt, 891,42 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus je 404,56 Euro brutto seit dem 1. März 2020, aus 45,90 Euro brutto seit dem 1. April 2020 und aus 440,96 Euro brutto seit 1. Mai 2020 an den Kläger zu zahlen.

  • II.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

  • III.

    Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger macht mit seiner Klage die Zahlung von erhöhten Nachtarbeitszuschlägen für die Zeit von Februar bis April 2020 geltend.

Der Kläger ist seit dem 16. September 1991 bei der Beklagten als Bäcker in Wechselschicht zuletzt mit einer Stundenvergütung i.H.v. 24,00 Euro brutto bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 38 Stunden in der Woche - so der Kläger - beschäftigt. Die Gehaltsabrechnungen weisen eine Arbeitszeit von 37,5 Stunden pro Woche aus (Anlagen K1 bis K3, Bl. 6 ff. der erstinstanzlichen Akte). Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach der "Einstellungsbestätigung" vom 2. September 1991 (Bl. 66 der Berufungsakte). Darin haben die Parteien als Beschäftigung "Bäcker(Wechselschicht)" vereinbart. Der Kläger arbeitet im wöchentlichen Wechsel zwischen Früh- und Spätschicht jeweils von 4:30 Uhr oder 5:00 Uhr beginnend bis 14:00 Uhr (Frühschicht) oder von 14:00 Uhr bis 22:00 Uhr (Spätschicht). Die Parteien haben zudem in der Einstellungsbestätigung die Anwendbarkeit der Tarifverträge der Süßwarenindustrie vereinbart. Darunter fällt der Bundesmanteltarifvertrag für die Süßwarenindustrie vom 14. Mai 2007 - nachfolgend: BMTV -, der unter anderem folgende Regelungen enthält:

§ 3

Arbeitszeit

1. Die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen 38 Stunden an in der Regel 5 Werktagen in der Woche.

2. Zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber werden in Betriebsvereinbarungen die regelmäßigen wöchentlichen betrieblichen Arbeitszeiten festgelegt. Dabei kann eine betriebliche Arbeitszeit von bis zu 48 Stunden in der Woche ohne Mehrarbeitszuschläge vereinbart werden. ...

3. a) Wird von der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden abgewichen, so ist die sich daraus ergebende Zeitdifferenz einem für jeden Arbeitnehmer zu führenden Arbeitszeitkonto zu belasten bzw. mehrarbeitszuschlagsfrei, aber zuzüglich des Belastungsausgleiches gemäß § 3 Ziff. 4 gutzuschreiben.

(...)

4. Es ist den Beschäftigten zusätzlich ein Belastungsausgleich je Stunde wie folgt in Form einer Arbeitszeitgutschrift auf dem Arbeitszeitkonto zu gewähren:

10% = 6 Minuten für die 43. und 44. Wochenstunde

15% = 9 Minuten für die 45. und 46. Wochenstunde

22% = 13 Minuten für die 44. und 45. Wochenstunde

(...)

§ 4

Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

I. Begriffsbestimmungen

1. Schichtarbeit ist die regelmäßige tägliche vereinbarte Arbeitszeit, unabhängig von ihrer täglichen Lage.

Wechselschicht liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt, wobei dieser Rhythmus zusammenhängend mindestens eine volle Arbeitswoche dauert.

2. Mehrarbeit ist die über die jeweils betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit, soweit es sich nicht um einen zu...

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