Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässige Differenzierung zwischen Nachtarbeit in Wechselschicht und sonstiger Nachtarbeit. Unterschiede von fast fünfzig Prozent bei Nachtzuschlägen gemäß BMT Süßwarenindustrie (v. 14. 05.2007) als Verstoß gegen Art. 3 GG. Beseitigung von Ungleichbehandlungen im Bezugssystem durch Anpassung nach oben. Unwirksame Ausschlussfrist bei Geltung für jedwede Ansprüche

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die in § 4 II. Nr. 1 Buchst. b des Bundesmanteltarifvertrags für die Süßwarenindustrie vom 14. Mai 2007 (BMTV) enthaltene Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Zuschläge für Nachtarbeit sind gegenüber den Zuschlägen für Nachtschichtarbeit bei Berücksichtigung aller maßgeblichen Ausgleichsregelungen annähernd doppelt so hoch. Beide Arbeitnehmergruppen sind vergleichbar. Dem BMTV ist kein Sachgrund für die Differenzierung zwischen den Zuschlägen für Nachtarbeit und für Nachtschichtarbeit zu entnehmen.

2. Die nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbarende Ungleichbehandlung des Klägers, der für Schichtarbeit im Zeitraum von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr lediglich den Zuschlag von 15% erhält, kann nur durch eine Anpassung "nach oben" beseitigt werden. Die Anpassung "nach oben" hat sich an der günstigeren Regelung zu orientieren. Diese Norm enthält das einzig verbleibende gültige Bezugssystem.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; GewO § 106; ArbZG § 2 Abs. 5, § 6 Abs. 5; BGB § 202 Abs. 1, § 134

 

Verfahrensgang

ArbG Ulm (Entscheidung vom 07.10.2020; Aktenzeichen 7 Ca 163/20)

 

Tenor

  1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm - Kammern Ravensburg - vom 7. Oktober 2020 abgeändert:

    Die Beklagte wird verurteilt, 2483,37 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus je 948,78 Euro brutto seit dem 1. Dezember 2019, aus 81,38 Euro brutto seit dem 1. Januar 2020, aus 39,69 Euro brutto seit 1. Februar 2020, aus 90,93 Euro brutto seit 1. März 2020, aus 399,00 Euro brutto seit 1. April 2020, aus 363,41 Euro brutto seit dem 1. Mai 2020, aus 523,43 Euro brutto seit dem 1. Juni 2020, aus 31,50 Euro brutto seit dem 1. Juli 2020 und aus 5,25 Euro brutto seit dem 1. August 2020 an den Kläger zu zahlen.

  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Der Kläger macht mit seiner Klage die Zahlung von erhöhten Nachtarbeitszuschlägen für die Zeit von November 2019 bis einschließlich Juli 2020 geltend.

Der Kläger ist seit dem 1. März 1993 bei der Beklagten als Bäcker in Wechselschicht zuletzt mit einer Stundenvergütung i.H.v. 23,33 Euro brutto bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 38 Stunden in der Woche beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach der "Einstellungsbestätigung" vom 19. Januar 1993 (Bl. 62 der Berufungsakte). Darin haben die Parteien als Beschäftigung "Bäcker/Wechselschicht" vereinbart und die Anwendbarkeit der Tarifverträge der Süßwarenindustrie. Darunter fällt der Bundesmanteltarifvertrag für die Süßwarenindustrie vom 14. Mai 2007 - nachfolgend: BMTV -, der unter anderem folgende Regelungen enthält:

§ 3

Arbeitszeit

1. Die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen 38 Stunden an in der Regel 5 Werktagen in der Woche.

2. Zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber werden in Betriebsvereinbarungen die regelmäßigen wöchentlichen betrieblichen Arbeitszeiten festgelegt. Dabei kann eine betriebliche Arbeitszeit von bis zu 48 Stunden in der Woche ohne Mehrarbeitszuschläge vereinbart werden. ...

3. a) Wird von der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden abgewichen, so ist die sich daraus ergebende Zeitdifferenz einem für jeden Arbeitnehmer zu führenden Arbeitszeitkonto zu belasten bzw. mehrarbeitszuschlagsfrei, aber zuzüglich des Belastungsausgleiches gemäß § 3 Ziff. 4 gutzuschreiben.

(...)

4. Es ist den Beschäftigten zusätzlich ein Belastungsausgleich je Stunde wie folgt in Form einer Arbeitszeitgutschrift auf dem Arbeitszeitkonto zu gewähren:

10% = 6 Minuten für die 43. und 44. Wochenstunde

15% = 9 Minuten für die 45. und 46. Wochenstunde

22% = 13 Minuten für die 44. und 45. Wochenstunde

(...)

§ 4

Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

I. Begriffsbestimmungen

1. Schichtarbeit ist die regelmäßige tägliche vereinbarte Arbeitszeit, unabhängig von ihrer täglichen Lage.

Wechselschicht liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt, wobei dieser Rhythmus zusammenhängend mindestens eine volle Arbeitswoche dauert.

2. Mehrarbeit ist die über die jeweils betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit, soweit es sich nicht um einen zulässigen Ausgleich für ausgefallene Arbeitszeit an einzelnen Werktagen handelt.

(...)

Mehrarbeit ist, soweit es nur irgendwie angängig ist, zum Beispiel durch zusätzliche Einstellung von Arbeitnehmern oder durch Einlegung von Schichten nach Maßgabe der betrieblichen und betri...

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