Entscheidungsstichwort (Thema)

Eingruppierung einer an einer Grundschule eingesetzten Erzieherin mit Berufserfahrungen in Einrichtungen der Jugendhilfe und des Betreuten Wohnens Jugendlicher mit besonderen Erziehungsschwierigkeiten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine Erzieherin, die vom Land Berlin eingestellt und an einer Grundschule eingesetzt wird und zuvor bei anderen Arbeitgebern in Einrichtungen der Jugendhilfe und des betreuten Wohnens Jugendliche mit besonderen Erziehungsschwierigkeiten aus einem schwierigen sozialen Umfeld betreut hat, hat einschlägige Berufserfahrung im Sinne der Protokollerklärung zu § 16 Abs. 2 TV-L auch dann, wenn die Vortätigkeiten aufgrund besonderer fachlicher Schwierigkeit höher zu bewerten waren.

2. Die rein hypothetische Aussicht auf die Ausübung des in Art. 45 AEUV enthaltenen Rechts auf Freizügigkeit in der Europäischen Union sowie die rein hypothetische Aussicht einer Beeinträchtigung dieses Rechts rechtfertigen die Anwendung der Freizügigkeitsbestimmungen des Unionsrechts nicht (EuGH v. 08.11.2012, C-40/11, Rz. 77).

3. Selbst wenn in § 16 Abs. 2 Satz 2 und 3 TV-L, wonach bei demselben Arbeitgeber erworbene einschlägige Berufserfahrung bei nicht schädlichen Unterbrechungen im Sinne der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L in vollem Umfang, bei anderen Arbeitgebern erworbene jedoch nur begrenzt angerechnet wird, eine mittelbare Benachteiligung von Wanderarbeitnehmern sehen müsste, wäre diese insbesondere durch das unionsrechtlich legitime Ziel, die Bindung zu einem bestimmten Arbeitgeber zu honorieren und einen Anreiz für ausscheidende Beschäftigte zu schaffen, zu diesem Arbeitgeber zurückzukehren gerechtfertigt. Ferner wird das legitime Ziel verfolgt, die in den Strukturen des Arbeitgebers erworbene Berufserfahrung des Beschäftigten weiter nutzen zu können.

4. Gemäß §§ 16 Abs. 3, 17 Abs. 1 TV-L erreicht eine Beschäftigte die nächste Stufe nach Ablauf der jeweils einschlägigen Stufenlaufzeit. Überschüssige Zeiten einschlägiger Berufserfahrung aus befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnissen mit anderen Arbeitgebern, die nach § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L bei der Einstellung keine Anrechnung finden, werden auf die Stufenlaufzeit nicht angerechnet.

 

Normenkette

AEUV Art. 45; EGV 492/2011 Art. 7; TV-L § 16 Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Entscheidung vom 18.03.2015; Aktenzeichen 60 Ca 4638/14)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 18. März 2015 - 60 Ca 4638/14 - unter Zurückweisung der Berufung des beklagten Landes im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass das beklagte Land verpflichtet ist, der Klägerin

- vom 01.09.2012 bis 29.05.2013 Entgelt nach EG 8, Stufe 2 TV-L Berliner Fassung,

- vom 30.05.2013 bis 06.09.2013 Zuschuss zum Mutterschaftsgeld gem. § 14 Abs. 1 S. 1 MuSchG i.V.m. § 13 Abs. 1 MuSchG unter Berücksichtigung eines regelmäßigen Arbeitsentgelts nach EG 8 Stufe 2 TV-L Berliner Fassung,

- vom 16.08.2014 bis 09.08.2015 Entgelt nach EG 8, Stufe 2 TV-L Berliner Fassung,

- ab 10.08.2015 Entgelt nach EG 8, Stufe 3 TV-L Berliner Fassung,

nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf die monatlichen Differenzen zwischen den der Klägerin hiernach zustehenden Bezügen und den tatsächlich gezahlten Bezügen ab dem auf den jeweiligen Fälligkeitstag folgenden Kalendertag bzw., sofern der Fälligkeitstag auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag entfällt, ab dem dem ersten hierauf folgenden Werktag nachfolgenden Kalendertag zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

III. Von den Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz haben die Klägerin 4/5 und das beklagte Land 1/5 zu tragen.

IV. Die Revision wird für die Klägerin und das beklagte Land zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Stufe, welcher die Klägerin bei ihrer Einstellung im Rahmen der einschlägigen Entgeltgruppe zuzuordnen war.

Die Klägerin war vom 01.12.2007 bis zum 31.08.2008 als Heimerzieherin bei dem Sozialdienst k. F. e. V. Berlin in stationären Jugendhilfeeinrichtungen beschäftigt, in denen Jugendliche und junge Erwachsene mit besonderen Erziehungsschwierigkeiten oder sonstigen häuslichen Problemen aufgenommen sind. Sie hatte deren Betreuung in pädagogischer, gesundheitlicher und hygienischer Hinsicht, Hilfe bei der Bewältigung alltäglicher Lebensprobleme wie z. B. Behördengängen und in Kooperation mit der Schule Hilfe bei schulischen Problemen zu leisten.

Vom 01.09.2008 bis zum 31.08.2012 war die Klägerin als sozialpädagogische Fachkraft im Bereich des betreuten Wohnens für Mädchen und junge Frauen von 15 bis 21 Jahren bei dem Verein zur Entwicklung neuer L. für M. e. V. im Mädchen-Wohnprojekt "P." beschäftigt. Zu den Betreuten gehörten u. a. Mädchen und Frauen, die Opfer schwerer Straftaten im inner- und/oder außerfamiliären Kontext geworden oder aufgrund von Kindeswohlgefährdung von der Herkunftsfamilie geflüchtet waren (s. ...

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