Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags. Keine Kürzung der Ausbildungsvergütung bei Teilzeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.
2. Die Ausbildungsvergütung beruht nicht nur auf einem bloßen Austausch von Arbeitsleistung gegen Entgelt und stellt keine Gegenleistung für Arbeit dar. Eine ratierliche Kürzung der Ausbildungsvergütung ist im TVAöD nicht explizit geregelt. Auch aus vergleichbaren Vorschriften - wie § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG oder § 17 BBiG - lässt sich kein Indiz für eine Kürzung herleiten. Die historische Tarifentwicklung sowie Sinn und Zweck eines Ausbildungsverhältnisses in Verbindung mit den Regelungen des TVAöD zeigen, dass die im TVAöD vorgesehene Ausbildungsvergütung im Falle einer Teilzeitausbildung ungekürzt zu zahlen ist.
Normenkette
BBiG § 10 Abs. 2, § 17 Fassung: 2019-12-31, § 111 Abs. 2 S. 1; TzBfG § 4 Abs. 1 S. 2; TVAöD § 1 Abs. 3, §§ 7, 8 Abs. 1, § 13 Abs. 1; TVöD §§ 15, 24 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Solingen (Entscheidung vom 13.06.2019; Aktenzeichen 3 Ca 697/18) |
Nachgehend
Tenor
I.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 13.06.2019 - AZ: 3 Ca 697/18 lev - teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat Oktober 2017 Ausbildungsvergütung in Höhe von 223,43 EUR brutto und vermögenswirksame Leistungen in Höhe von 3,07 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.10.2017 zu zahlen.
II.
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
III.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
IV.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über Vergütungsdifferenzen für die Monate Oktober 2017 bis einschließlich April 2018.
Der am 23.01.1999 geborene, mit einem Grad von 100 schwerbehinderte Kläger absolviert seit dem 01.08.2016 bei der beklagten Stadt eine Ausbildung zum Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste. Der Ausbildungsvertrag enthält u.a. folgende Regelungen:
§ 6
Vergütung, Einmalzahlungen, Abschlussprämie
Die Ausbildende zahlt dem Auszubildenden eine angemessene Vergütung; sie
beträgt zurzeit monatlich
853,26 € im ersten Ausbildungsjahr,
903,20 € im zweiten Ausbildungsjahr,
949,02 € im dritten Ausbildungsjahr.
Die Vergütung wird spätestens am 30. eines jeden Monats für den laufenden Monat auf ein von dem Auszubildenden zu benennenden Konto im Inland gezahlt.
Ausbildungszeit und Urlaub
2. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres beträgt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 39 Stunden.
§13
Ausbildungs- und Prüfungsordnung, Tarifvertrag, Innerdienstliche Vorschriften
Es gilt der Tarifvertrag für Auszubildende im öffentlichen Dienst (TVAöD). ... Mögliche tarifvertragliche Änderungen finden Anwendung auf diesen Tarifvertrag. ..."
Nachdem der Kläger aus gesundheitlichen Gründen einen Antrag auf Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit gestellt hatte, schlössen die Parteien folgenden Änderungsvertrag:
"§ 1
Die Arbeitszeitvereinbarung in § 7 des Arbeitsvertrages wird durch folgende Vereinbarung ersetzt: Herr N. B.
wird als Teilzeitbeschäftigter mit 76,92& der durchschnittlichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit eines entsprechenden Vollbeschäftigten beschäftigt
Im Übrigen bleiben die Regelungen des Arbeitsvertrages vom 22.02.2016 unverändert.
§ 3
Dieser Änderungsvertrag tritt mit Wirkung vom 01.10.2017 befristet bis 31.03.2018 in Kraft."
Am 28.03.2018 übersandte die Beklagte dem Kläger einen Anschlussvertrag mit einer Wochenarbeitszeit von 30 Stunden und einer entsprechend anteilig verkürzten Ausbildungsvergütung. Diesen Vertrag unterzeichnete der Kläger nicht. Dessen ungeachtet wurde er über den 31.03.2018 hinaus unverändert mit 30 Wochenstunden beschäftigt.
Die Ausbildungsvergütung im zweiten Ausbildungsjahr betrug gemäß § 8 Abs. 1 TVAöD bis Februar 2018 968,20 € und ab März 2018 1.018,20 €. Die Beklagte zahlte in diesem Zeitraum eine der Arbeitszeit des Klägers entsprechend anteilig gekürzte Vergütung in Höhe von 744,77 € brutto in den Monaten Oktober 2017 bis Februar 2018 und in Höhe von 783,23 € brutto für März und April 2018. Im November 2017 zahlte sie zudem als tarifliche Sondervergütung einen Betrag in Höhe von 670,29 € brutto. Den Arbeitgeberanteil für vermögenswirksame Leistungen in Höhe von 13,29 € brutto kürzte sie monatlich...