Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes durch Gruppenbildung. Keine unmittelbare gesundheitsschützende Wirkung von Nachtarbeitszuschlägen. Keine Ungleichbehandlung bei der Zuschlagshöhe zwischen Nachtarbeit in Wechselschicht und sonstiger Nachtarbeit. Auslegung normativer tariflicher Regelungen nach den allgemeinen Grundsätzen Wortlaut und Ratio
Leitsatz (amtlich)
1. Als selbständigen Grundrechtsträgern kommt den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Gerichte für Arbeitssachen jedoch, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu einer Gruppenbildung führen, mit der Art. 3 GG verletzt wird.
2. Bei der Beurteilung tariflicher Regelungen nach den obigen Maßstäben ist nicht allein auf die subjektiven Vorstellungen der Tarifvertragsparteien abzustellen, sondern auf die objektiven Gegebenheiten. Nicht die subjektive Willkür des Normgebers führt zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sondern nur die objektive, d. h. die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der gesetzlichen Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation (BVerfG 26.04.1978 - 1 BvL 29/76 - juris RN 35).
3. Nachtarbeitszuschläge haben keine unmittelbar gesundheitsschützende Wirkung. Sie dienen dem Gesundheitsschutz nur mittelbar. Die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers wird verteuert, um auf diesem Weg Nachtarbeit einzudämmen. Hierbei ist notwendigerweise auch zu berücksichtigen, inwieweit und in welchen Bereichen die Vermeidung der Nachtarbeit aus Sicht der Tarifvertragsparteien überhaupt möglich und sinnvoll ist. Dabei ist es den Tarifvertragsparteien im Hinblick auf ihre Sach- und Branchenkenntnis nach dem oben beschriebenen Maßstab unbenommen, eigenständig zu bewerten, welche Arten nächtlicher Arbeitsleistung sie durch welchen Betrag verteuern, um ggfs. zu berücksichtigen, dass ein bestimmter Umfang von Nachtarbeit aus produktionstechnischen und betriebswirtschaftlichen Gründen auch nicht zu vermeiden ist, wenn man ihn noch teurer macht.
4. Außerdem soll der Nachtarbeitszuschlag in einem gewissen Umfang den Arbeitnehmer für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigen. Es unterliegt der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien zu bewerten, ob diese soziale Desynchronisation gemessen an der zu vergütenden Zeiteinheit im Vergleich zur Schichtarbeit höher, gleich oder niedriger ist, wenn Tätigkeiten in den Nachtstunden außerhalb von Schichten erbracht werden. Letzteres erfolgt möglicherweise in der Regel kurzfristig und ungeplant, während Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit lange im Voraus feststehen mag und damit planbar ist.
5. In der Regelung von Nachtarbeitszuschlägen gemäß dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst-, gemüse und kartoffelverarbeitenden Industrie , Essigindustrie, Senfindustrie für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2004 liegt nach den geschilderten Maßstäben keine mit den Wertungen des Art. 3 GG unvereinbare gleichheitswidrige Schlechterstellung von Beschäftigten, die Nachtarbeit in Wechselschicht erbringen gegenüber denjenigen, die sonstige Nachtarbeit leisten. Der Tarifvertrag enthält vielmehr vom Regelungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckte unterschiedliche Regelungen für vertretbar als unterschiedlich bewertete Sachverhalte. Hinzu kommt, dass sich aus der Tarifgeschichte ergibt, dass in dem 50-prozentigen Zuschlag für Nachtarbeit außerhalb von Schichten ein Anteil von 25 % nicht die Nachtarbeit entlohnen soll, sondern eine (pauschale) Vergütung von Mehrarbeit darstellt.
Normenkette
GG Art. 9 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1; TVG § 1; ArbZG § 6; ArbGG § 64 Abs. 6
Verfahrensgang
ArbG Mönchengladbach (Entscheidung vom 19.02.2020; Aktenzeichen 6 Ca 2360/20) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 19.02.2020 - 6 Ca 2360/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge für geleistete Nachtschichtarbeit.
Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem September 2000 als Schichtarbeiterin gegen einen Bruttostundenlohn von zuletzt 17,54 € tätig. Die Beklagte arbeitet im kontinuierlichen Drei-Schicht-Betrieb.
Auf das Arbeitsverhältnis finden aufgrund beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie, Essigindustrie, Senfindustrie für das Land Nordrhein-Westfalen vom 08.12.2004 (MTV) sowie der Entgelttarifvertrag für die in der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie, Essigindustrie, Senfindustrie im Lande Nordrhein-Westfalen tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom 14.05.2018 (ETV) Anwendung.
Zur Vergütung für die Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit heißt es im MTV:
§ 5 Mehrarbeit, Nacht-, Sonntags- und Feierarbeit
1. Begriffsbestimm...