Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Kündigungsschutzgesetz und Insolvenzverfahren. Grob fehlerhaftes Auswahlverfahren i.S.d. § 1 Abs. 3 KSchG. Keine Sozialauswahl bei Stilllegung des Betriebs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ist einem Rechtsmittelführer bereits für die erste Instanz Prozesskostenhilfe gewährt worden und ist über diese für die zweite Instanz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist noch keine Entscheidung getroffen worden, ist dem Rechtsmittelführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er an der Einlegung des Rechtsmittels wegen fehlender Entscheidung über die Prozesskostenhilfe gehindert war.

2. Das KSchG findet auch im Insolvenzverfahren Anwendung. Dies hat zur Folge, dass der Insolvenzverwalter grundsätzlich eine soziale Auswahl i.S.v. § 1 Absatz 3 Satz 1 KSchG vorzunehmen hat.

3. Die Sozialauswahl ist grob fehlerhaft, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt. Sie ist nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn sie das Ziel hat, eine ausgewogene Personalstruktur zu erhalten oder zu schaffen.

4. Die Verpflichtung des Arbeitgebers zur sozialen Auswahl dient dem Zweck, bei unvermeidbaren Kündigungen aus dem Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer den sozial stärksten ausfindig zu machen, der also am wenigsten schutzbedürftig ist. Dies wird jedoch nicht relevant, wenn alle Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt durch Betriebsstilllegung wegfallen.

 

Normenkette

ZPO § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 3; InsO §§ 113, 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; KSchG § 1 Abs. 3 S. 1; BetrVG § 111; SGB II §§ 7, 7a; SGB VI § 41

 

Verfahrensgang

ArbG Dortmund (Entscheidung vom 09.12.2020; Aktenzeichen 10 Ca 1380/20)

 

Tenor

  • I.

    Dem Beklagten wird wegen Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 - 10 Ca 1380/20 - Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt.

  • II.

    Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 - 10 Ca 1380/20 - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung teilweise abgeändert:

    1. Es wird festgestellt, dass das zwischen der Klägerin und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung des Beklagten vom 27.03.2020 noch durch die Kündigung des Beklagten vom 29.06.2020 aufgelöst worden ist.
    2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
    3. Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 6/7 der Beklagte und zu 1/7 die Klägerin.
  • III.

    Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von zwei ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigungen sowie um einen Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung.

Die am 02.01."0000" geborene, verheiratete Klägerin ist seit dem 01.08.1972 bei der A Profile GmbH (nachfolgend: "Insolvenzschuldnerin") zuletzt als Sachbearbeiterin mit den Aufgabengebieten Betreuung und Disposition von Großkunden im Inland sowie der Koordination kaufmännischer Abwicklungsarbeiten innerhalb der Abt. AWW gegen eine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung von 5.173,69 EUR beschäftigt.

Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Dieser zeigte am gleichen Tag die drohende Masseunzulänglichkeit an.

Am 27. März 2020 schloss der Beklagte mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich. Dieser sah die betriebsbedingte Kündigung von 61 der damals beschäftigten 396 Arbeitnehmer vor. Die zu kündigenden Arbeitnehmer waren in einer Liste namentlich aufgeführt, darunter auch die Klägerin.

Der Interessenausgleich sah eine Sozialauswahl unter Bildung von 79 Vergleichsgruppen vor. Die Klägerin selbst war nach dem Vortrag des Beklagten der Vergleichsgruppe 68 "Vertriebslogistik" zugeordnet.

In dieser Vergleichsgruppe beschäftigte die Insolvenzschuldnerin folgende Arbeitnehmer/innen mit den folgenden Sozialdaten:

Name

Vorname

Geburtsdatum

Anzahl Kinder

Familienstand

Eintrittsdatum

Schwerb./

Gleichstellung

Klägerin

02.01.1957

0

VH

01.08.1972

Nein

B.

04.05.1986

0

VH

15.08.2012

Nein

C.

21.06.1966

0

VH

15.06.1994

Nein

D.

05.04.1969

0

VH

01.09.1986

Nein

E.

26.06.1964

0

NV

01.09.1982

Nein

Der Interessenausgleich sah vor, dass die im Bereich der Vertriebslogistik anfallenden Arbeiten künftig nur noch von vier statt bisher fünf Arbeitnehmern erledigt werden. Bei der Sozialauswahl orientierte sich der Beklagte grundsätzlich an folgendem Schema:

Alter:

pro vollendetem Lebensjahr ein Punkt, max. 55 Punkte

Betriebszugehörigkeit:

für jedes vollendete Beschäftigungsjahr ein Punkt, ...

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