Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschlechtsbezogene Diskriminierung durch Stellenanzeige. Einwand des Rechtsmissbrauchs gegen Entschädigungsansprüche aus § 15 AGG. Rechtsmissbrauch durch unzulässige Rechtsausübung. Strenge Anforderungen an den Rechtsmissbrauch bei Stellenbewerbungen. "AGG-Hopping" als Rechtsmissbrauch. Abgestufte Darlegungs- und Beweislast für das "AGG-Hopping". Voraussetzungen der Divergenzrevision
Leitsatz (amtlich)
1. An die Annahme des durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwands gegen den Entschädigungsanspruch aus § 15 Abs. 2 AGG sind hohe Anforderungen zu stellen. Zu berücksichtigen sind die Gesamtumstände des Einzelfalls.
2. Der Arbeitgeber muss Indizien vortragen und im Bestreitensfall beweisen, die den rechtshindernden Einwand des Rechtsmissbrauchs begründen. Nach allgemeinen Grundsätzen ist die Darlegungslast insoweit abgestuft. Hat die beklagte Partei hinreichende Tatsachen vorgetragen, die einen rechtshindernden Einwand - wie rechtsmissbräuchliches Verhalten - indizieren, so muss sich die klagende Partei hierzu substantiiert, d. h. mit näheren positiven Angaben, äußern.
3. Folgende Umstände können in ihrer Gesamtheit hinreichende Indizien für ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen sein: wenig aussagekräftige Bewerbung ohne Unterlagen, gezielte Nachfrage ("Suchen Sie ausschließlich eine Frau") wegen des Inhalts der Stellenausschreibung ("Sekretärin"), weite Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstelle, Mitteilung "Ich wäre ab sofort verfügbar" (wie in der Stellenausschreiben erwartet) trotz bestehender langandauernder Arbeitsunfähigkeit, eine Vielzahl von Entschädigungsklagen (im Streitfall etwa 20 Verfahren) vor dem gleichen Hintergrund (Bewerbung auf Stellenanzeigen für eine "Sekretärin" im Portal ebay-Kleinanzeigen).
Leitsatz (redaktionell)
1. Wird in einer Stellenanzeige eine "Sekretärin" gesucht, liegt darin eine unmittelbare Diskriminierung männlicher Stellenbewerber i.S.d. § 3 Abs. 1 AGG.
2. Sowohl der Schadensersatzanspruch eines erfolglosen Bewerbers aus § 15 Abs. 1 AGG als auch der Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG können dem durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwand ausgesetzt sein.
3. Nach § 242 BGB sind Rechte oder Rechtsstellungen, die durch unredliches Verhalten begründet oder erworben wurden, nicht schutzwürdig. Der Ausnutzung einer rechtsmissbräuchlich erworbenen Rechtsposition kann der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegenstehen, wenn der Anspruchsteller sich die günstige Rechtsposition durch ein treuwidriges Verhalten verschafft hat.
4. Im Hinblick auf das Entschädigungsverlangen nach § 15 Abs. 2 AGG ist Rechtsmissbrauch anzunehmen, sofern der Anspruchsteller sich nicht beworben hat, um die ausgeschriebene Stelle zu erhalten, sondern es ihm darum ging, nur den formalen Status als Bewerber im Sinne des § 6 Abs. 1 S. 1 AGG zu erlangen mit dem ausschließlichen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen. Betreibt er dies als Geschäftsmodell, liegt ein sog. "AGG-Hopping" vor.
5. Der Arbeitgeber muss Indizien vortragen und im Bestreitensfall beweisen, die den rechtshindernden Einwand begründen. Nach allgemeinen Grundsätzen ist die Darlegungslast insoweit abgestuft. Hat die beklagte Partei hinreichende Tatsachen vorgetragen, so muss sich die klagende Partei hierzu substantiiert, d. h. mit näheren positiven Angaben äußern.
6. Divergenz setzt eine relevante Abweichung von einem anderen Urteil voraus. Eine relevante Abweichung liegt nur vor, wenn das Urteil des LAG zu einer Rechtsfrage einen abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, der von einem abstrakten Rechtssatz zu der gleichen Rechtsfrage in der Referenzentscheidung des Divergenzgerichtes abweicht. Daran fehlt es, wenn nur ähnliche Lebenssachverhalte von verschiedenen Gerichten unterschiedlich bewertet werden.
Normenkette
AGG § 15 Abs. 2; BGB § 242; AGG § 3 Abs. 1, § 6 Abs. 1 S. 2; ZPO § 138; ArbGG § 72 Abs. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
ArbG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 03.08.2022; Aktenzeichen 2 Ca 547/22) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 03.08.2022 - 2 Ca 547/22 - wie folgt abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz gegen die Beklagte zusteht.
Der Kläger wurde 1994 geboren. Er ist ledig und keiner Person zum Unterhalt verpflichtet. Der Kläger ist wohnhaft in A. Nachdem der Kläger eine von ihm angemietete Wohnung infolge einer Räumungsklage, die vermieterseits angestrengt wurde, verloren hatte, lebte er zunächst in einer Unterkunft für Obdachlose in der C Straße 79 in A. Seit November 2021 hatte er unter der gleichen Adresse eine Wohnung angemietet. Infolge eines Sturzes mit dem Fahrrad war der Kläger seit dem 06.01.2022 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Er bezog bis Mai 2022 Krankengeld und danach Arbeitslosengeld. Der Kläger absolviert ein ...