Entscheidungsstichwort (Thema)
Unbeachtlichkeit von Mängeln bei der innerverbandlichen Willensbildung für die Wirksamkeit des Tarifvertrags. Geltung des allgemeinen Gleichheitssatzes für Tarifverträge. Weiter Gestaltungsspielraum und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien. Tarifliche Kappung bzw. Aufstockung von Zuschlägen
Leitsatz (amtlich)
1. Mängel bei der innerverbandlichen Willensbildung führen ebensowenig zur Unwirksamkeit des Vereinbarten wie der Umstand, dass ein innergewerkschaftlicher Kontroll- und Beschwerdeausschuss vor Abschluss des Tarifvertrags eine Beschwerde über die Art und Weise der Verhandlungsführung nicht beschieden hat
2. Zur Wirksamkeit einer tarifvertraglich geregelten Kappung bzw. Aufstockung von Zuschlägen
Leitsatz (redaktionell)
1. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Dementsprechend ist Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheitswidrigen Differenzierungen führen.
2. Den Tarifvertragsparteien steht als selbstständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie bestimmen in diesem Rahmen nicht nur den Zweck einer tariflichen Leistung; ihnen kommt auch eine Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind, sowie ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung.
3. Bei den tariflichen Regelungen zur Kappung bzw. Aufstockung von Zuschlägen liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Denn es werden keine unterschiedlichen Gruppen von Arbeitnehmern mit unterschiedlichen Rechtsfolgen gebildet.
Normenkette
TVG § 4 Abs. 1, § 3 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; TVG § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1; BGB § 611a Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Aachen (Entscheidung vom 21.10.2022; Aktenzeichen 7 Ca 546/21) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 21.10.2022 - 7 Ca 546/21 - wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Anwendbarkeit von Tarifverträgen und hieraus folgende Zahlungsansprüche.
Die Beklagte betreibt in N drei konzessionierte Spielbanken in D-H, B O und A.
Der Kläger ist seit dem 01.11.1985 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt und als Mitarbeiter in der Spieltechnik tätig. Seit 2014 ist er Mitglied des bei der Beklagten für Aachen gebildeten Betriebsrat.
In dem zwischen den Parteien geschlossenen Arbeitsvertrag heißt es in § 6:
"Bis zum Abschluss tarifvertraglicher Regelungen und/oder Betriebsvereinbarungen gelten für das Arbeitsverhältnis die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter der W S G, M, W Str. , die mit Unterzeichnung des Dienstvertrages als verbindlich anerkannt und Vertragsbestandteil werden.
Nach Abschluss tarifvertraglicher Regelungen und/oder Betriebsvereinbarungen werden diese in ihrer jeweils gültigen Fassung Vertragsbestandteil."
Ferner schlossen die Parteien eine Zusatzvereinbarung zu § 6 des Arbeitsvertrags mit folgendem Wortlaut:
"Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag vom 23. Juli 1985 und die Teilvereinbarung zum Tronc-Gehaltstarifvertrag vom 23. Juli 1986 Anwendung."
Bei der Beklagten bestehen seit langer Zeit Haustarifverträge mit der Gewerkschaft ver.di, deren Mitglied der Kläger jedenfalls bis nach dem Abschluss der hier streitgegenständlichen Tarifverträge vom 09.11.2020 war.
In den Jahren 2012 und 2013 wurden zwischen der Beklagten und der Gewerkschaft ver.di neue Haustarifverträge abgeschlossen, die sowohl nach Tätigkeitsbereichen, als auch danach differenzierten, ob es sich um sogenannte "Altbeschäftigte", die vor dem 01.07.2012 eingetreten waren, oder um später eingetretenen "Neubeschäftigte" handelt. Auf das Arbeitsverhältnis des Klägers fand u.a. der Entgelttarifvertrag für Arbeitnehmer/innen der W S G in der Spieltechnik und in der Kasse (Eintritte vor 01.07.2012) vom 12.10.2012 Anwendung. Dieser sah in der für den Kläger zutreffenden Entgeltgruppe ein maximales monatliches Tarifentgelt in Höhe von 4.092,00 Euro vor. Weiter heißt es zu der maßgeblichen Entgelttabelle:
"Das max. monatliche Tarifentgelt gem. der oben stehenden Tabelle teilt sich auf in ein Grundgehalt (77%) und ein max. Zuschlagsgehalt (23%). Sollte eine steuerrechtliche Änderung zu einem Wegfall von steuerfreien Zuschlägen führen, werden Grund- und Zuschlagsgehalt zum monatlichen Tarifentgelt."
Auf dieser Grundlage berechnete die Beklagte stets das Grundgehalt (77% des Tabellenentgelts) sowie auf dieser Basis die Zuschläge bis zu einer Höhe von 23% des Tabellenentgelts ab. Fielen Zuschläge in höherem Umfang an...