Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschränkter Umkreis aufgrund von arbeitsvertraglicher Versetzungsklausel. Zuweisung einer 70 Kilometer entfernten Arbeitsstätte (Friseursalon). Annahmeverzug des Arbeitgebers auch ohne konkretes Arbeitsangebot des Arbeitnehmers. Ausnahmen vom Grundsatz "kein Lohn ohne Arbeit". Zumutbarkeit der Zuweisung einer nicht vertragsgerechten Tätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Bei einer arbeitsvertraglichen Versetzungsklausel die auf einen Umkreis von 30 km um den Wohnsitz der Arbeitnehmerin beschränkt ist, ist nach Schließung der Arbeitsstätte (hier: Friseursalon) die Zuweisung einer Arbeit in der nächstgelegenen, aber 70 km entfernten Filiale nicht vertragsgerecht.
Kommt die Arbeitnehmerin der Weisung nicht nach, gilt der Grundsatz aus §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 BGB ("ohne Arbeit kein Lohn"), es gilt aber die Ausnahme des § 615 BGB (Annahmeverzug). Zur Auslösung des Annahmeverzuges ist in einem solchen Fall das grundsätzlich notwendige tatsächliche Arbeitsangebot der Arbeitnehmerin nicht erforderlich. Das gilt auch im bestehenden Arbeitsverhältnis oder während der laufenden Kündigungsfrist (Abgrenzung zu BAG v. 15.05.2013 - 5 AZR 130/12 -). Denn der konkrete Fall ist strukturell vergleichbar mit einer Freistellung von der Arbeit, also mit einer ausdrücklichen Zurückweisung der Arbeitnehmerin.
Indem die Arbeitnehmerin die angebotene - nicht vertragsgerechte - Beschäftigung in der 70 km entfernt liegenden Filiale nicht annimmt, unterlässt sie nicht böswillig anderweitigen Verdienst im Sinne des § 615 Satz 2 BGB, wenn ihr Stundenlohn so gering ist und ihre Fahrtkosten so hoch, dass sie erst ab der vierten Arbeitsstunde beginnen kann, über die Fahrtkosten hinaus Geld zu verdienen und sich damit die Fahrt zur entfernten Arbeitsstätte als unzumutbar darstellt.
Normenkette
BGB §§ 611a, 615, 293-296; GewO § 106; GG Art. 12 Abs. 1; ZPO § 97 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Köln (Entscheidung vom 16.07.2021; Aktenzeichen 7 Ca 2339/21) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 16.07.2021 - 7 Ca 2339/21 - wird zurückgewiesen.
- Die Kosten der Berufung hat die Beklagte zu tragen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten nach der Schließung der Betriebsstätte in W , in der die Klägerin bisher tätig war, um Entgelt aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs für den Zeitraum zwischen dem Zugang einer arbeitgeberseitigen Kündigung und dem Ablauf der einschlägigen Kündigungsfrist.
Mangels eines Rechtsmittels der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts steht in der Berufungsinstanz rechtskräftig fest, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund der besagten Kündigung am 31.12.2020 sein Ende gefunden hat. Wegen der insoweit erfolgten Beschränkung der Berufung der Beklagten ist gleichfalls die Feststellung des Arbeitsgerichts rechtskräftig, dass die Klägerin nicht verpflichtet war, auf Weisung der Beklagten ab dem 26.09.2020 in E zu arbeiten.
Die Beklagte betreibt eine Kette von Friseursalons und beschäftigte im streitigen Zeitraum in ihren Filialen im Bundesgebiet rund 160 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Klägerin war in der Zeit vom 23.03.2009 bis zum 31.12.2020 auf Basis des Arbeitsvertrags vom 20.03.2009 bei der Beklagten als Friseurin beschäftigt. Vereinbarungsgemäß erhielt sie zuletzt ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 1.812,60 EUR. Daraus errechnete sich unter Berücksichtigung der individuellen Besteuerungsmerkmale der Klägerin ein Nettogehalt in Höhe von ca. 1.400,00 EUR. In § 2 des Arbeitsvertrags heißt es wörtlich (Unterstreichung nur hier):
"§ 2 Ort der Tätigkeit
1) Die Arbeitnehmerin wird als Mitarbeiterin im SalonW eingestellt.
2) Die Arbeitnehmerin ist bereit, auch in einem etwaigen anderen Salon des Arbeitgebers tätig zu werden, sofern die neue Arbeitsstelle von der bisherigen oder vom Arbeitnehmerwohnsitz weniger als 30 km entfernt ist."
Die Klägerin hat ihren Wohnsitz in W . Die Beklagte entschloss sich im Februar 2020 die Filiale in W mit Wirkung zum 30.09.2020 zu schließen. Den bestehenden Mietvertrag kündigte sie mit Schreiben vom 25.02.2020. Sechs Monate später, nämlich mit Schreiben vom 28.08.2020, unterrichtete die Beklagte die Klägerin über die bevorstehende Schließung und bot ihr eine Tätigkeit in der nächstgelegenen - wenn auch über 75 km von W entfernten - Filiale der Beklagten in E an. Dies lehnte die Klägerin durch Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 02.09.2020 ab.
Mit Schreiben vom 10.09.2020 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie versetze sie für die Zeit ab dem 26.09.2020 in den Salon in E ; hilfsweise spreche sie eine Änderungskündigung zum 31.12.2020 aus. Die Klägerin widersprach der Versetzung und nahm die mit der Änderungskündigung angebotene Änderung der Arbeitsbedingungen nicht an, auch nicht unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung.
Die Beklagte schloss zum 30.09.2020 ihre Filiale in W . Schon vor diesem Zeitpunkt hatte sie die notwendigen Rückbauten vorgenommen und das Mietobjekt geräumt. Auf die Bildda...