Entscheidungsstichwort (Thema)
Differenzierung zwischen Neubeschäftigten und Bestandsarbeitnehmern in § 20a Abs. 3 und Abs. 5 IfSG. Angebot der Arbeitsleistung eines Bestandsarbeitnehmers ohne Impfnachweis. "Billiges Ermessen" bei der Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers
Leitsatz (amtlich)
1. § 20a IfSG idF. vom 18.3.-16.09.2022 unterschied zwischen Bestands- und Neuarbeitnehmern. Für bereits vor dem 16.03.2022 beschäftigte Arbeitnehmer bestand kein gesetzliches Tätigkeitsverbot. Die Anordnung eines Tätigkeitsverbotes war dem Gesundheitsamt vorbehalten.
2. Ein fehlender Nachweis nach § 20a Abs. 1 IfSG stand einem wirksamen Angebot der Arbeitsleitung iSd. § 294 BGB durch den Arbeitnehmer nicht entgegen.
3. Eine Freistellung durch den Arbeitgeber kraft Direktionsrechtes bedarf jedenfalls einer Abwägung der beiderseitigen Interessen und damit einzelfallbezogenen Sachvortrags.
Leitsatz (redaktionell)
1. Aus § 20a Abs. 3 und Abs. 5 IfSG folgt, dass bei Neueinstellungen ab dem 16.03.2022 die Vorlage eines Impfnachweises zwingende Voraussetzung eines tatsächlichen Tätigwerdens in der Pflegeeinrichtung ist. Ebenso ergibt sich dies aus § 20a Abs. 5 IfSG für den Fall, dass das Gesundheitsamt ausdrücklich ein Tätigkeitsverbot ausspricht. Für "Bestandsarbeitnehmer" ist ein unmittelbar geltendes gesetzliches Tätigkeits- und Beschäftigungsverbot dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen.
2. Für einen Bestandsarbeitnehmer ohne Impfnachweis ist die Leistungserbringung weder objektiv noch subjektiv unmöglich im Sinne der §§ 293, 294 BGB. Er kann damit seine Arbeitsleistung ordnungsgemäß anbieten. Infolgedessen kann er die Zahlung des vertraglich vereinbarten Entgelts für den Zeitraum der einseitigen Freistellung von der Arbeitsleistung verlangen.
3. Bei der Ausübung des Direktionsrechts nach § 106 Satz 2 GewO entspricht eine Leistungsbestimmung billigem Ermessen, wenn die wesentlichen Umstände des Einzelfalls abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind. Erforderlich ist eine Abwägung nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit.
Normenkette
BGB §§ 615, 618; IfSG § 20a Fassung: 2022-09-16; BGB §§ 293-294, 315 Abs. 1; GewO § 106 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Braunschweig (Entscheidung vom 13.09.2022; Aktenzeichen 2 Ca 104/22) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 13.09.2022 - 2 Ca 104/22 - abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.028,11 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
auf 1.271,05 € brutto seit dem 01.04.2022,
auf 3.378,53 € brutto seit dem 01.05.2022,
auf weitere 3.378,53 € brutto seit dem 01.06.2022
abzüglich von der Bundesagentur für Arbeit
am 31.03.2021 gezahlter 713,28 € netto,
am 30.04.2022 gezahlter 1.337,40 € netto,
am 31.05.2022 gezahlter 1.337,40 € netto,
am 30.06.2022 gezahlter 44,58 € netto
zu zahlen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Vergütungszahlung für Zeiten einer vorrübergehenden Nichtbeschäftigung im Jahr 2022.
Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht Braunschweig hat mit Urteil vom 13.09.2022 die Klage abgewiesen.
Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, der betragsmäßig höhere Klagantrag zu 2. sei bereits deswegen unzulässig gem. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, weil die Formulierung "abzüglich auf die Arbeitsagentur übergegangener Ansprüche" zu unbestimmt sei.
Die Klägerin habe aber auch keinen Anspruch auf Annahmeverzugslohn ab dem 15.03.2022. Mangels von der Klägerin erbrachten Impf- oder Genesenen-Nachweises im Sinne von § 22a IfSG habe die Beklagte die Klägerin ab dem 16.03.2022 ohne Bezüge freistellen dürfen. Durch eine einseitig vom Arbeitgeber erklärte Freistellung der Arbeitnehmerin gerate der Arbeitgeber regelmäßig gemäß § 293 BGB in Annahmeverzug. Das gelte aber nicht, wenn die Arbeitnehmerin außerstande sei, die geschuldete Arbeitsleistung aus in ihrer Person liegenden Gründen zu bewirken. Hier sei die Klägerin im streitbefangenen Zeitraum von März bis Ende Mai 2022 mangels Nachweis im Sinne von § 22a IfSG nicht leistungsfähig gewesen. Unstreitig handele es sich bei dem Krankenhaus, in dem die Klägerin bis zum 15.03.2022 vertragsgemäß als Gesundheits- und Krankenpflegerin tätig war, um eine Einrichtung im Sinne von § 20a Abs. 1 Nr. 1a IfSG. Ebenfalls unstreitig habe die Klägerin nicht über einen Nachweis nach § 22a Abs. 1 oder Abs. 2 IfSG verfügt, ohne sich auf eine medizinische Kontraindikation im Sinne von § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG berufen zu können. Nach der gebotenen Auslegung der gesetzlichen Neuregelung des § 20a IfSG habe für die Klägerin seit dem 16.03.2022 bereits unmittelbar aus § 20a A...