Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwaltsverschulden. Nachträgliche Klagezulassung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein gekündigter Arbeitnehmer muss sich das Verschulden seines mit der Klageerhebung beauftragten bevollmächtigten Rechtsanwalts bei Versäumung der Klagefrist nach § 4 S. 1 KSchG nicht nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Die Anwendung von § 85 Abs. 2 ZPO setzt ein Prozessrechtsverhältnis voraus, an dem es vor Klageerhebung fehlt.
2. Eine Zurechnung des Vertreterverschuldens findet statt, wenn die Kündigungsschutzklage erhoben und das Prozessverhältnis damit begründet ist. Die Versäumung der Frist nach § 5 Abs. 3 S. 1 KSchG durch den prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt muss sich der Arbeitnehmer zurechnen lassen.
Normenkette
KSchG § 4 S. 1, § 5 Abs. 1, § 3 S. 1; ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Lüneburg (Beschluss vom 25.10.2002; Aktenzeichen 1 Ca 409/02) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Klägers vom 27.11.2002 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 25.10.2002 – 1 Ca 409/02 – wird zurückgewiesen.
Der Wert des Beschlusses wird auf 2.454,20 EUR festgesetzt.
Tatbestand
I. Die Parteien streiten um die nachträgliche Zulassung einer verspätet erhobenen Kündigungsschutzklage.
Der Kläger war bei der Beklagten zu 1) und deren Rechtsvorgänger, dem Beklagten zu 2) seit dem 05.03.2001 zunächst als EDV-Techniker und dann als Kraftfahrer beschäftigt, zuletzt zu einem Bruttomonatseinkommen von 1.636,13 EUR. Die Beklagte zu 1) beschäftigte ständig mehr als 5 Arbeitnehmer. Mit Schreiben vom 28.06.2002, das der Kläger am 29.06.2002 erhielt, kündigte die Beklagte zu 1) das Arbeitsverhältnis der Parteien fristlos.
Gegen diese Kündigung wehrt sich der Kläger mit seiner Kündigungsschutzklage vom 19.07.2002, die am 23.07.2002 beim Arbeitsgericht eingegangen ist. Mit der Ladung zum Gütetermin, die ausweislich des Kanzleistempels am 29.07.2002 abgeschickt worden ist, wurde seinen Prozessbevollmächtigten der Zugang der Klage mitgeteilt.
Mit Beschluss vom 02.09.2002 wies das Arbeitsgericht daraufhin, dass die Kündigungsschutzklage verspätet zugegangen ist. Dieser Umstand wurde im Beisein des Klägers in der Güteverhandlung vom 03.09.2002 erörtert.
Mit Schriftsatz vom 10.09.2002 beantragte der Kläger durch anwaltlichen Schriftsatz, die Kündigungsschutzklage nachträglich zuzulassen. Der Kläger versichert folgenden Sachverhalt anwaltlich bzw. unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen:
Er – der Kläger – sei am 12.07.2002 bei seiner jetzigen Prozessbevollmächtigten gewesen, um sich dort hinsichtlich der Wirksamkeit der Kündigung beraten zu lassen. Mit seiner Prozessbevollmächtigten, die zur Kündigungsschutzklage geraten habe, sei er übereingekommen, sich zunächst selbst um eine einvernehmliche Regelung zu bemühen. Nachdem diese nicht rechtzeitig erzielt werden konnte, habe er seine Prozessbevollmächtigte per Telefax am 17.07.2002 beauftragt, Kündigungsschutzklage einzureichen. Daraufhin sei die Klage von ihr diktiert und mit einem Aufkleber „Fristablauf 22.07.2002” versehen worden, auf dem weiterhin vermerkt worden sei, dass die Klage spätestens am 19.07.2002 geschrieben und abgeschickt werden solle (insoweit: anwaltliche Versicherung durch Frau Rechtsanwältin G.).
Die Mitarbeiterin M. habe das Diktat am 19.07.2002 geschrieben, um 10.38 Uhr gespeichert, unmittelbar danach ausgedruckt, Abschriften gefertigt und in die Unterschriftenmappe der Prozessbevollmächtigten gelegt (insoweit: eidesstattliche Versicherung der Angestellten Frau M.).
Die weitere Mitarbeiterin L. habe zum Büroschluss am Freitag um 16.00 Uhr sämtliche Unterschriftsmappen kontrolliert und dafür Sorge getragen, dass alle Schriftsätze unterschrieben worden seien. Sodann habe sie die im Postausgangskorb befindliche Post an diesem Tag kuvertiert, frankiert und um 16.15 Uhr in einen Briefkasten geworfen, dessen Leerung um 16.45 Uhr stattfinde. Auf dem Briefkasten sei ein Vermerk der Post angebracht, dass die während der Tagesleerung eingeworfene Post im Regelfall am nächsten Zustellungstag bundesweit beim Empfänger sei (insoweit: eidesstattliche Versicherung der Angestellten Frau L.).
Der Kläger meint, er habe alles Erforderliche unternommen, um die Klage rechtzeitig anzubringen. Unter Beachtung der regelmäßigen Brieflaufzeiten wäre die Klage rechtzeitig am 20.07.2002 beim Arbeitsgericht eingegangen. Störungen im Postverkehr könnten ihm nicht zum Nachteil gereichen. Jedenfalls liege kein Verschulden des Klägers an der Versäumung der Klagefrist vor. Der Kläger habe sich fristgemäß an eine „geeignete Stelle” gewandt, nämlich an seine nunmehr prozessbevollmächtigte Rechtsanwältin.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage als unzulässig zurückgewiesen, weil die Antragsfrist des § 5 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht gewahrt sei. Das Arbeitsgericht hat den Standpunkt eingenommen, die verspätete Kündigungsschutzklage sei nicht zuzulassen, weil das Verschulden der Prozessbevollmächtigten bei der Versäumung der Klagefrist des § 4 Satz ...