Entscheidungsstichwort (Thema)
Dokumentation der erforderlichen Betriebsratsarbeit im Rahmen betrieblicher Arbeitszeiterfassung als Arbeitszeit. Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrates zu einer beabsichtigten außerordentlichen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung
Leitsatz (amtlich)
1. Anstelle der Arbeitspflicht tritt bei einem freigestellten Betriebsratsmitglied die Verpflichtung, während seiner arbeitsvertraglichen Arbeitszeit im Betrieb am Sitz des Betriebsrats, dem er angehört, erforderliche Betriebsratsarbeit zu verrichten, bzw. anwesend zu sein um sich dort für anfallende Betriebsratsarbeit bereitzuhalten (vgl. BAG 10.07.2013 7 ABR 22/12 , Rn. 20, juris). Mithin darf es grundsätzlich auch nur solche Zeiten im Rahmen betrieblicher Arbeitszeiterfassung als Arbeitszeit dokumentieren. Entsprechendes gilt für die Zeiten, in denen das Betriebsratsmitglied aufgrund eines ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschlusses außerhalb des Betriebs an einer Schulungs- und Bildungsveranstaltung i.S.v. § 37 Abs. 6 und Abs. 7 BetrVG tatsächlich teilnimmt oder sich hierfür bereitgehalten hat.
2. Die Prüfung der Frage, ob eine Tätigkeit zur ordnungsgemäßen Durchführung der Aufgaben des Betriebsrats erforderlich ist, obliegt auch dem einzelnen Betriebsratsmitglied. Ihm steht insoweit ein Beurteilungsspielraum zu. Es darf die Frage der Erforderlichkeit allerdings nicht allein nach seinem subjektiven Ermessen beantworten, sondern muss die Interessen des Betriebs einerseits und des Betriebsrats und der Belegschaft andererseits gegeneinander abwägen.
3. Mit dem Beschluss zur Entsendung zu einer Schulungs- und Bildungsveranstaltung i.S.v. § 37 Abs. 6 und Abs. 7 BetrVG, für welche der Arbeitgeber die Kosten einschließlich der Reise, der Unterbringung und der Verpflegung übernimmt, konkretisiert der Betriebsrat die dem entsandten Mitglied obliegende Betriebsratstätigkeit für den fraglichen Zeitraum. Die Teilnahme an der Veranstaltung hat für das entsandte Betriebsratsmitglied damit grundsätzlich Vorrang vor anderen Betriebsratsaufgaben. Für ein Verlassen der Veranstaltung und eine Verrichtung anderer Betriebsratsarbeit außerhalb des Betriebes und außerhalb des Veranstaltungsortes bedarf es gewichtiger Gründe.
4. Gibt das auf eine Schulungs- und Bildungsveranstaltung i.S.v. § 37 Abs. 6 und Abs. 7 BetrVG entsandte Betriebsratsmitglied nachträglich im Rahmen betrieblicher Arbeitszeiterfassung bewusst Zeiten als Arbeitszeit an, von denen es weiß, dass es weder an der Schulungsveranstaltung teilgenommen hat, noch andere erforderliche Betriebsratstätigkeiten verrichtet hat, um auf diese Weise eine Amtspflichtverletzung vor dem Arbeitgeber zu verheimlichen und eine ihm nicht zustehende Vergütung bzw. Zeitgutschrift zu erhalten, kann die vom Betriebsrat verweigerte Zustimmung zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung durch die Arbeitgeberin nach § 103 BetrVG zu ersetzen sein.
Normenkette
BetrVG § 103 Abs. 2, § 37 Abs. 2, 6-7; BGB § 241 Abs. 2, § 626 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Lüneburg (Entscheidung vom 05.04.2023; Aktenzeichen 2 BV 6/22) |
Tenor
1. Die Beschwerden des Beteiligten zu 2 und des Beteiligten zu 3 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 05.04.2023 (2 BV 6/22) werden zurückgewiesen.
2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Beteiligten streiten um die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrates zu einer beabsichtigten außerordentlichen Tat-, hilfsweise Verdachtskündigung.
Die zu 1 beteiligte Arbeitgeberin betreibt am Standort W-Stadt ein Logistikzentrum. Der Beteiligte zu 2 ist der dortige 17-köpfige Betriebsrat, dessen Vorsitzender der am 03.11.1960 geborene, verheiratete und seit Mitte 2017 bei der Arbeitgeberin als Versandmitarbeiter vollzeitbeschäftigte Beteiligte zu 3 ist. Seit dem 30.05.2022 ist der Beteiligte zu 3. freigestelltes Betriebsratsmitglied.
Bei der Arbeitgeberin wird im Dreischichtbetrieb gearbeitet. Die tägliche Arbeitszeit beträgt 8 Stunden. Für alle Arbeitnehmer gilt eine elektronische Zeiterfassung. Jeder Mitarbeiter kann
Einsicht in das für ihn elektronisch geführt Arbeitszeitkonto nehmen. Alle vollzeitbeschäftigten Mitarbeiter erhalten auf der Basis einer täglichen Arbeitszeit von 8 Stunden an 5 Tagen in der Woche ein verstetigtes Monatseinkommen. Dies gilt auch für die Betriebsratsmitglieder. Der Beteiligte zu 3 kann als freigestelltes Betriebsratsmitglied seine tägliche Betriebsratsarbeit schichtungebunden innerhalb der betriebsüblichen Arbeitszeiten leisten.
Bei einer Tätigkeit außerhalb des Betriebs, insbesondere einer bewilligten Schulung, werden üblicherweise auf Antrag des betreffenden Mitarbeiters für den entsprechenden Zeitraum täglich 8 Stunden als Dienstgang in das System eingebucht, weil ein elektronisches Einstempeln von außerhalb nicht möglich ist und auf diese Weise verhindert wird, dass zunächst eine Fehlzeit entsteht. Werden im Nachgang keine anderen Zeiten gemeldet, bleibt es bei dieser Einbuchung.
Im September 2022 teilte der Beteiligte zu 3 der Arbeitgeberin unter ...