Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiter Gestaltungsspielraum und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien bei der tariflichen Normsetzung. Zulässige Differenzierung zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit in einem Tarifvertrag. Praktische Konkordanz zwischen Grundrechtsausübung der Tarifparteien und Gleichheitsrechten der Normunterworfenen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Differenzierung zwischen Nachtarbeit (50 %) und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr (25 %) bei der Zuschlagshöhe im Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie, Fruchtsaftindustrie, Mineralbrunnenindustrie Niedersachsen/Bremen vom 23.08.2005 verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sie hält sich im Rahmen der den Tarifvertragsparteien nach Art. 9 Abs. 3 GG zustehenden Einschätzungsprärogative.
2. Praktische Konkordanz zwischen der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien nach Art. 9 Abs. 3 GG und den Gleichheitsrechten der Normunterworfenen (Art. 3 Abs. 1 GG) ist für jede tarifvertragliche Regelung, die unterschiedliche Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit vorsieht, gesondert herzustellen.
Leitsatz (redaktionell)
Den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern kommt aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht.
Normenkette
ArbZG § 6 Abs. 5; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3; MTV für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie Niedersachsen/Bremen § 5 Nr. 2 Buchst. c Fassung: 2005-08-23
Verfahrensgang
ArbG Nienburg (Entscheidung vom 05.12.2019; Aktenzeichen 2 Ca 286/19) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nienburg vom 05.12.19 - 2 Ca 286/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über tarifliche Nachtzuschläge für Schichtarbeit.
Der Kläger ist bei der Beklagten beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit ua. der Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie, Mineralbrunnenindustrie Niedersachsen/B-Stadt vom 23.08.2005 (im Folgenden: MTV).
Der MTV, in Kraft getreten am 01.09.2005 (§ 15 Abs. 1 MTV), lautet auszugsweise - soweit für den vorliegenden Rechtsstreit von Interesse - wie folgt:
"§ 4
Alters- und Schichtfreizeit
...
2. Schichtfreizeit (Geltung nur für Arbeitnehmer in Unternehmen gem. § 1 Ziff. 2a)
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 geleistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
...
§ 5
Mehrarbeit, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
1. Begriffsbestimmung
...
c) Nachtarbeit
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt.
...
2. Zuschläge
Für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Schichtarbeit in der Nacht, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
a) Für Mehrarbeit |
25% |
ab der 3. Mehrarbeitsstunde am Tage |
30% |
... |
|
b) für Nachtarbeit |
50 % |
c) für Schichtarbeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr |
25 % |
...
3. Berechnung der Zuschläge
...
b) Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen.
Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Schichtarbeit (§ 5 Abs. 2 c). Dieser Zuschlag ist auch bei Zusammentreffen mit anderen Zuschlägen zu zahlen.
...
§ 14
Ausschlussfrist
Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Beschäftigungsverhältnis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von 3 Monaten ab Entstehen des Anspruches geltend zu machen. (...)
..."
Der Kläger ist bei der Beklagten in Wechselschichtarbeit eingesetzt. Soweit er Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr leistet, zahlt ihm die Beklagte den Zuschlag in Höhe von 25 % gemäß § 5 Ziff. 2 c) MTV. Daneben zahlt die Beklagte an Arbeitnehmer, die im 4-Schichtsystem arbeiten eine übertarifliche Zulage.
Mit Schreiben vom 26.04.2019 machte der Kläger Differenzansprüche zu dem 50%igen Zuschlag für Nachtarbeit nach § 5 Ziff. 2 b) MTV geltend.
Der Kläger hat - zusammengefasst - die Auffassung vertreten, die Differenzierung bei der Zuschlagshöhe zwischen Nachtarbeit und Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr sei gleichheitswidrig. Nachtarbeit sei nach den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen in jeder Form für Arbeitnehmer belastend und führe zu einer biologischen und sozialen Desynchronisation. Es sei kein Grund ersichtlich, warum die Arbeitnehmer in Schichtarbeit nur die Hälfte des Zuschlags erhalten als die Arbeitnehmer, die zwar auch Nachtarbeit, aber ohne Schichtarbeit verrichten. Da eine Anpassung "nach oben" zu erfolgen h...