Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiter Gestaltungsspielraum und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien bei der Gestaltung ihrer Tarifregelungen. Praktische Konkordanz bei der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien. Sachliche Gründe für die unterschiedliche Höhe des tariflichen Nachtarbeitszuschlags für ungeplante Nachtarbeit und zur Nachtzeit geleistete Schichtarbeit. Anforderungen an die Berufungsbegründung
Leitsatz (amtlich)
1. Den Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern kommt aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und auf die betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht.
2. Allerdings verpflichtet der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 3 GG die Arbeitsgerichte dann zur Beschränkung der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien, wenn diese mit den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungsrang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkordanz herstellen und gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen unterbinden.
3. Die Differenzierung bei der Höhe des Zuschlags zwischen ungeplanter Nachtarbeit und zur Nachtzeit geleisteter Schichtarbeit im MTV für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/Bremen vom 23. August 2005 ist sachlich gerechtfertigt. Die Tarifvertragsparteien haben die Nachtarbeit als Ausnahme gegenüber der Nachtschichtarbeit angesehen und zulässigerweise als belastender eingestuft.
Leitsatz (redaktionell)
Gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil ergeben soll. Sie muss auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen oder tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen. Eine Rüge mit formelhaften Wendungen oder bloßes Wiederholen des erstinstanzlichen Vorbringens reichen nicht aus.
Normenkette
ArbZG § 6 Abs. 5; GG Art. 1 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; ZPO § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2; MTV für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie, Mineralbrunnenindustrie Niedersachsen/Bremen § 4 Fassung: 2005-02-23, § 5 Nr. 2 Buchst. b) Fassung: 2005-02-23, Buchst. c Fassung: 2005-02-23
Verfahrensgang
ArbG Oldenburg (Oldenburg) (Entscheidung vom 05.02.2020; Aktenzeichen 2 Ca 258/19) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 5. Februar 2019 - 2 Ca 258/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.
Der Kläger ist bei der Beklagten, die Mineralwasser und Süßgetränke herstellt, in Schichtarbeit beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund beidseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie, Fruchtsaftindustrie und Mineralbrunnen Niedersachsen/Bremen vom 23. August 2005 (nachfolgend: MTV) Anwendung. Die einschlägigen Tarifnormen lauten:
"§ 4
Alters- und Schichtfreizeit
...
2. Schichtfreizeit (Geltung nur für Arbeitnehmer in Unternehmen gem. § 1 Ziffer 2a)
Arbeitnehmer, die ständig im Drei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten für je 25 gelistete Nachtschichten in diesem System eine Freischicht.
Arbeitnehmer, die ständig im Zwei-Schicht-Wechsel arbeiten, erhalten nach diesem System für je 55 geleistete Spätschichten eine Freischicht.
Wechselschichtarbeit liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt und die Spätschicht mindestens bis 20.00 Uhr andauert.
...
§ 5
Mehrarbeit, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit
1. Begriffsbestimmung
...
c) Nachtarbeit
Nachtarbeit ist die in der Zeit von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr geleistete Arbeit, soweit es sich nicht um Schichtarbeit handelt.
...
2. Zuschläge
Für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Schichtarbeit in der Nacht, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:
a) für Mehrarbeit |
25% |
ab der 3. Mehrarbeitsstunde am Tage |
30% |
... |
|
b) für Nachtarbeit |
50% |
c) für Schichtarbeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr |
25% |
... |
|
3. Berechnung der Zuschläge
...
b) Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höhere zu zahlen.
Hiervon ausgenommen ist der Zuschlag für Schichtarbeit (§ 5 Abs. 2c). Dieser Zuschlag ist auch bei Zusammentreffen mit anderen Zuschlägen zu zahlen.
...
§ 14
Ausschlussfrist
Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Beschäftigungsverhältnis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von 3 Monaten ab Entstehen des Anspruches geltend zu machen."
Bei der Beklagten wird...