Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiter Gestaltungsspielraum und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien bei der tariflichen Normsetzung. Zulässige Differenzierung zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit in einem Tarifvertrag. Praktische Konkordanz zwischen Grundrechtsausübung der Tarifparteien und Gleichheitsrechten der Normunterworfenen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Differenzierung zwischen regelmäßiger Nachtarbeit (25 %) und unregelmäßiger Nachtarbeit (50 %) bei der Zuschlagshöhe im Manteltarifvertrag für die milchbe- und verarbeitenden Molkereibetriebe Niedersachsen/Bremen vom 22.01.1997 verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sie hält sich im Rahmen der den Tarifvertragsparteien nach Art. 9 Abs. 3 GG zustehenden Einschätzungsprärogative.
2. Praktische Konkordanz zwischen der Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien nach Art. 9 Abs. 3 GG und den Gleichheitsrechten der Normunterworfenen (Art. 3 Abs. 1 GG) ist für jede tarifvertragliche Regelung, die unterschiedliche Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit vorsieht, gesondert herzustellen.
Leitsatz (redaktionell)
Den Tarifvertragsparteien als selbstständigen Grundrechtsträgern kommt aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht.
Normenkette
ArbZG § 6 Abs. 5; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3; MTV für die milchbe- und verarbeitenden Molkereibetriebe Niedersachsen/Bremen § 3 Fassung: 1997-01-22, § 5 Nr. 2 Fassung: 1997-01-22
Verfahrensgang
ArbG Nienburg (Entscheidung vom 05.12.2019; Aktenzeichen 2 Ca 293/19) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nienburg vom 05.12.2019 - 2 Ca 293/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über tarifliche Nachtzuschläge für regelmäßige Nachtarbeit.
Der Kläger ist bei der Beklagten, einem Molkereiunternehmen, beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gelten kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die Tarifverträge für die Molkereien Niedersachsen/B-Stadt (ohne Weser-Ems).
Der Manteltarifvertrag für die milchbe- und verarbeitenden Molkereibetriebe Niedersachsen/B-Stadt (ohne Weser-Ems) vom 22.01.1997, in Kraft getreten am 01.01.1997, (im Folgenden: MTV) lautet auszugsweise wie folgt:
"§ 3 - Nachtarbeit
Als Nachtarbeit gilt die Zeit von 20.00 Uhr bis 5.00 Uhr.
§ 5 - Mehr-, Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagsarbeit
...
2. Für die regelmäßige Nachtarbeit beträgt der Zuschlag 25 %,
für die unregelmäßige Nachtarbeit beträgt der Zuschlag 50 %.
...
6. Die Zuschläge werden von dem tatsächlichen Stundenverdienst berechnet. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der höchste, bei gleicher Höhe nur ein Zuschlag zu zahlen, außer dem Zuschlag für Nachtarbeit, der ohne Anrechnung bleibt.
7. Arbeitnehmer, die regelmäßig Wechselschichtarbeit im Dreischichtturnus ausführen, haben für je 65 tatsächlich geleistete Nachtschichten Anspruch auf bezahlte Schichtfreizeiten.
Diese betragen 2 Tage Schichtfreizeit.
...
§ 6 - Löhne und Gehälter
...
5. Gegenseitige Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis gelten als verwirkt, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Entstehen geltend gemacht werden.
..."
Der Kläger ist bei der Beklagten im Wechselschichtdienst eingesetzt. Soweit er während dieses Schichtdienstes Nachtarbeit iSd. MTV leistet, zahlt ihm die Beklagte den Zuschlag in Höhe von 25 % für regelmäßige Nachtarbeit gemäß § 5 Ziff. 2 MTV.
Für regelmäßige Wechselschichtarbeit im 3-Schicht-Turnus zahlt die Beklagte auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung vom 31.01.1991 für Nachtarbeit in der Zeit zwischen 0:00 Uhr und 4:00 Uhr tatsächlich anstelle des Zuschlags von 25% eine Nachtschichtzulage von 40 %. Die vorgesehenen Schichtfreizeiten nach § 5 Ziff. 7 MTV gewährt die Beklagte hingegen tatsächlich nicht.
Mit Schreiben vom 29.04.2019 und 31.05.2019 machte der Kläger Differenzansprüche zu dem 50%igen Zuschlag für unregelmäßig Nachtarbeit geltend.
Der Kläger hat - zusammengefasst - die Auffassung vertreten, die Differenzierung zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit in der Zuschlagshöhe sei gleichheitswidrig. Nachtarbeit sei nach den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen in jeder Form für Arbeitnehmer belastend und führe zu einer biologischen und sozialen Desynchronisation. Da eine Anpassung "nach oben" zu erfolgen habe, könne er für jegliche Nachtarbeit den tariflichen Zuschlag von 50 % verlangen.
Der Kläger hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Abrechnungszeitraum 01.02.2019 bis 28.02.2019 einen Betrag in Höhe von 225,69 Eu...